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Selbs Betrug

Selbs Betrug

Titel: Selbs Betrug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schlink
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ich hinter ihm die Bagger, Transportbänder und Lastwagen hören würde, die ich aus dem Flugzeug gesehen hatte. Die Vögel, der Wind, das ferne Rauschen der Autos – sonst war es still. Die Uhr zeigte zehn. Frühstückspause? Ich setzte mich auf einen Stein und wartete.
    Was ich nach einer Weile hörte, konnte ich zuerst nicht identifizieren. Rattern Transportbänder so? Quietschen so Bagger? Aber das Geräusch von Motoren fehlte. Ich konnte nicht glauben, daß die Wachen den Zaun auf Mountain Bikes abfahren würden, aber so klang es. Dann hörte ich Stimmen, eine helle und eine tiefe.
    »Paß doch auf, Evchen!«
    »Mach ich, Opa, mach ich.«
    »Nicht über Stock und Stein! Du brichst mir noch das Genick. Wenn’s so arg holpert und schüttelt, muß ich wieder husten. Kechkechkech.«
    »Das ist nicht das Holpern, Opa, das ist das Rauchen.«
    »Ach was, Evchen, bei mir haben’s die Zigaretten auf die Beine abgesehen, nicht auf die Lunge.«
    Evchen, erhitzt und verschwitzt, mochte achtzehn sein, Opa im Rollstuhl zwischen achtzig und hundertzehn. Ein kleines, dürres Männlein mit lichtem, weißem Haar und einem dünnen Bart, wie ihn Chinesen haben. Er hatte einen Buckel, saß krumm, klammerte sich mit den Händen an die Seitenlehnen und stemmte das linke, unter dem Knie amputierte Bein gegen die hoch angebrachte Fußplatte. Das rechte Bein war über dem Knie amputiert. In ihrer Anstrengung sahen Evchen und Opa mich erst, als ich aufstand. Sie schauten mich an, als käme ich von einem anderen Stern.
    »Grüß Gott. Schöner Tag heute.« Mir fiel nichts Besseres ein.
    Evchen grüßte zurück. »Guten Tag.«
    »Pst«, stoppte Opa Evchens und meine Konversation. »Hörst du? Also doch.«
    Wir lauschten, und jetzt waren die Bagger, Transportbänder und Lastwagen deutlich zu hören.
    »Ich vermute, die hatten eben Frühstück.« Sie schauten mich noch verblüffter an. »Sie meinten doch die Arbeiten hinter dem Zaun, dem neuen Zaun. Sie interessieren sich dafür?«
    »Ob ich … Sie sind nicht von hier? Früher bin ich ihn jeden Tag abgegangen, kech, als ich in Rente kam und noch beide Beine hatte, dann so oft es noch ging, aber keine Woche ohne. Jetzt fährt sie mich, wenn sie kann. Wenn Sie von hier wären, würde ich Sie kennen. Sie würden mich auch kennen. Kech. Hier läuft sonst keiner.«
    »Ich habe von Ihnen gehört, Herr Henlein.«
    »Hörst du, Evchen, man hört von mir. Sie sind bei den Grünen? Ihr wollt euch wieder um den Forst kümmern? Ich hab davon gehört, kech. Soll wieder auf die Schnelle gehen, und dann seid ihr wieder enttäuscht, weil auf die Schnelle nichts geht. Wollt die Welt verbessern und nehmt euch nicht mal die Zeit zu hören, was ich zu sagen habe.«
    »Ich wußte nicht, daß Sie noch aktiv sind. Wo wohnen Sie? Wo können wir uns treffen?«
    »Sie müssen sich nur nach Mannheim verfügen, ich wohne nicht mehr in Viernheim. Bei den Kindern um die Ecke, kech, in E 6, im Altersheim. Auf, Evchen, wir müssen weiter.«
    Ich sah den beiden nach. Sie war geschickt und hatte einen Blick dafür, wo es leichter und wo es schwerer war durchzukommen. Aber allen Wurzeln und Steinen konnte sie nicht ausweichen, und dann brauchte sie alle Kraft, den Rollstuhl mit dem schimpfenden Henlein über das Hindernis zu stoßen.
    Ich lief hinterher. »Kann ich helfen?«
    »Komme schon zurecht, kech.«
    »Du schon, Opa, aber ich laß mir gerne helfen«, sagte Evchen.
    Wir brauchten fast zwei Stunden, bis wir die Straße erreicht hatten. Henlein schimpfte, hustete und erzählte. Von seinen Aktionen in den sechziger und siebziger Jahren, mit denen er erreichen wollte, daß der Sache auf den Grund gegangen wird. »Das Giftgas von den Amis – das ist gar nicht das Schlimmste. Die werden selbst einigermaßen aufpassen. Aber das alte Zeug …« 1935 war er ins KZ gekommen, und 1945 hatte man ihn beim Verschuben und Vergraben von Giftgasbeständen der Wehrmacht eingesetzt. »Bei Lossa, Sondershausen und Dingelstädt – ich hab später drüber geschrieben, bin auch rübergefahren und hab meine Flugblätter dort verteilt, aber die haben mich abgeschoben. Schöne Kommunisten waren das. Na ja, und dann hier bei Viernheim. Da lag schon Zeug vom Ersten Weltkrieg, hieß es, Gelbkreuz, Blaukreuz, Lost, und wir haben Tabun und Sarin dazugebuddelt.« Nach der Befreiung aus dem KZ hatte es Henlein hierhin und dorthin verschlagen, 1953 kam er nach Mannheim und ging zur BBC , und 1955 heiratete er und baute in Viernheim ein Haus. Daß

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