Selbs Justiz
sollen. Du begreifst schnell. Ich weiß noch keine Antwort, es sei denn …« Mir fiel ein, was die Wirtin von der Bahnhofgaststätte erzählt hatte. »Die Frau am alten Bahnhof hat zwei Schläge gehört, kurz hintereinander. Jetzt wird mir das klar. Mischkeys Wagen war auf der Brücke im Geländer hängengeblieben, da hat Schmalz senior ihn mit einer großen Anstrengung aus dem prekären Gleichgewicht gebracht und sich dabei seine Verletzung zugezogen. An der Anstrengung ist er dann schließlich zwei Wochen später gestorben. Ja, so muß es gewesen sein.«
»Zusammenpassen würde das alles schon, auch vom ärztlichen Standpunkt. Ein Schlag beim Durchbrechen des Geländers, einer beim Aufprall auf den Bahndamm. Wenn sich alte Leute zuviel zumuten, kann es passieren, daß sie einen kleinen Gehirnschlag kriegen. Der bleibt unbemerkt, bis dann das Herz nicht mehr mitmacht.«
Ich war mit einem Mal sehr müde. »Trotzdem ist mir vieles noch nicht klar. Der alte Schmalz ist ja nicht von selber draufgekommen, Mischkey umzubringen. Und das Motiv weiß ich auch noch nicht. Fahr mich bitte nach Hause, Philipp. Den Bordeaux trinken wir ein andermal. Ich hoffe nur, daß du wegen meiner Eskapaden keine Schwierigkeiten kriegst.«
Als wir aus der Gerwig- in die Sandhofenstraße einbogen, raste ein Streifenwagen mit Blaulicht ohne Martinshorn an uns vorbei zum Hafenbecken. Ich drehte mich nicht einmal um.
21
Die betenden Hände
Nach durchfieberter Nacht rief ich Brigitte an. Sie kam sofort, brachte Chinin gegen mein Fieber mit und Nasentropfen, massierte mir den Nacken, hängte die Kleider zum Trocknen auf, die ich am Abend im Flur hatte fallen lassen, bereitete in der Küche etwas vor, was ich mir zu Mittag warm machen mußte, ging los, kaufte Orangensaft, Traubenzucker und Zigaretten und fütterte Turbo. Sie war geschäftig, tüchtig und besorgt. Als ich wollte, daß sie sich noch ein bißchen auf den Bettrand setzt, mußte sie weg.
Ich schlief fast den ganzen Tag. Philipp rief an und bestätigte die Blutgruppe Null und den negativen Rhesusfaktor. Durch das Fenster drangen die Geräusche des Verkehrs auf der Augusta-Anlage und das Geschrei spielender Kinder in den Dämmer meines Zimmers. Ich erinnerte mich an Kinderkrankheitstage, an den Wunsch, mit den anderen Kindern draußen zu spielen, und zugleich den Genuß der eigenen Schwäche und der mütterlichen Verwöhnung. Ich rannte im fiebrigen Halbschlaf noch mal und noch mal vor dem hechelnden Schäferhund und Energie und Ausdauer davon. Ich holte die Angst nach, die ich gestern nicht gespürt hatte, weil alles zu schnell gegangen war. Ich fieberte Phantasien über Mischkeys Ermordung und Schmalz’ Motive.
Gegen Abend ging es mir besser. Das Fieber war runtergegangen, und ich war schwach, mochte aber die Rinderbrühe mit Nudeln und Gemüse essen, die Brigitte vorbereitet hatte, und danach eine Sweet Afton rauchen. Wie sollte die Arbeit an meinem Fall weitergehen? Mord gehört in die Hände der Polizei, und selbst wenn die RCW , was ich mir vorstellen konnte, den Schleier des Vergessens über den gestrigen Vorfall breiteten, würde ich von niemandem im Werk mehr irgend etwas erfahren. Ich rief Nägelsbach an. Er und seine Frau hatten schon zu Abend gegessen und waren im Atelier.
»Natürlich können Sie noch vorbeikommen. Sie können auch ›Hedda Gabler‹ mithören, wir sind gerade beim dritten Akt.«
Ich hängte einen Zettel an die Haustür, um Brigitte zu beruhigen, falls sie noch einmal nach mir schauen sollte. Die Fahrt nach Heidelberg war schlimm. Meine Langsamkeit und die Schnelligkeit des Autos kamen nur mühsam miteinander zurecht.
Nägelsbachs wohnen in einem der Pfaffengrunder Siedlungshäuschen aus den zwanziger Jahren. Den Schuppen, ursprünglich für Hühner und Kaninchen gedacht, hat Nägelsbach zu seinem Atelier gemacht mit großem Fenster und hellen Lampen. Der Abend war kühl, und im schwedischen Eisenofen brannten ein paar Holzscheite. Nägelsbach saß auf seinem barhockerhohen Stuhl an der großen Tischplatte, auf der die ›Betenden Hände‹ von Dürer streichhölzerne Gestalt gewannen. Seine Frau las im Sessel neben dem Ofen vor. Es war die perfekte Idylle, die sich meinem Blick bot, als ich durch das hintere Gartentor direkt zum Atelier gekommen war und vor dem Anklopfen durch das Fenster sah.
»Mein Gott, wie sehen denn Sie aus!« Frau Nägelsbach räumte mir den Sessel und setzte sich auf einen Schemel.
»Sie müssen ja ganz schön was auf
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