Selbs Justiz
Zwecke einsetzen. Er würde das System benutzen, aber nicht blamieren.
Am nächsten Morgen suchte ich vor dem Frühstück ein Radiogeschäft auf. Ich hatte meine Anlage noch einmal ausprobiert, und die Störung war weg. Das irri-tierte mich erst recht. Ich kann es nur schlecht ertragen, wenn die Infrastruktur sich unberechenbar zeigt. Da mag das Auto zwar noch fahren und die Waschmaschine noch waschen, solange nicht auch das letzte unbe-deutende Signallämpchen von preußischer Pünktlichkeit ist, habe ich keine Ruhe.
Ich geriet an einen kompetenten jungen Mann. Er hatte Mitleid mit meinem technischen Unverstand, fast hätte er mit freundlicher Herablassung Opa zu mir gesagt. Ich weiß natürlich auch, daß Radiowellen nicht erst durch das Radio angelockt werden, sondern immer da sind. Das Radio macht sie lediglich hörbar, und der junge Mann erklärte mir, daß fast dieselben Schaltkreise, die das im Empfänger leisten, auch im Verstärker vorhanden 78
sind, und unter gewissen atmosphärischen Bedingungen funktioniert der Verstärker als Empfänger. Da war nichts zu machen, das konnte man nur hinnehmen.
Auf dem Weg von der Seckenheimer Straße zu meinem Café in den Arkaden am Wasserturm kaufte ich mir die Zeitung. Immer liegt bei meinem Händler neben meiner ›Süddeutschen‹ die ›Rhein-Neckar-Zeitung‹
aus, und aus irgendeinem Grund setzte sich das Kürzel rnz in meinem Kopf fest.
Als ich im ›Café Gmeiner‹ vorm Kaffee saß und auf die Eier mit Speck wartete, hatte ich dasselbe Gefühl, wie wenn ich jemandem etwas sagen möchte, aber nicht darauf komme, was. Hatte es mit der rnz zu tun? Mir fiel ein, daß ich Tietzkes Interview mit Firner nicht gelesen hatte. Aber das war es nicht, wonach ich suchte.
Hatte mir nicht gestern jemand von der rnz erzählt?
Nein, Oelmüller hatte gesagt, das rrz hätte sich beim Smogalarm getäuscht. Das war anscheinend die für den Smogalarm und die Emissionsdatenerfassung zuständige Stelle. Aber da war noch etwas, worauf ich nicht kam. Es hatte mit dem Verstärker zu tun, der als Empfänger funktionierte.
Als die Eier mit Speck kamen, bestellte ich noch einen Kaffee. Die Kellnerin brachte ihn erst nach der dritten Aufforderung. »Tut mir leid, Herr Selb, ich hab heut eine lange Leitung. Ich hab gestern auf meiner Tochter ihren Bub aufgepaßt, weil die jungen Leut das Abo beim Theater haben und gestern spät heimge-kommen sind. Die Götterdämmerung vom Wagner hat so lange gebraucht.«
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Lange Leitung. Natürlich, das war’s, die lange Leitung zum rrz. Herzog hatte mir vom Modell der direkten Emissionsdatenerfassung berichtet. Dieselben Emissionsdaten werden auch im rcw-System erfaßt, hatte Oelmüller gesagt. Und Ostenteich hatte vom Online-Anschluß der rcw an das staatliche Überwachungssystem gesprochen. Irgendwie mußten also das Rechenzentrum von rcw und rrz zusammenhängen. War es möglich, vom rrz aus über diesen Zusammenhang in das mbi-System einzudringen? Und war es denkbar, daß die Leute von den rcw dies schlicht vergessen hatten?
Ich dachte zurück und erinnerte mich genau, daß von Terminals im Betrieb und von Telefonleitungen nach außen die Rede gewesen war, wenn wir uns über die möglichen Einbruchstellen ins System unterhalten hatten. Eine Leitung zwischen rrz und rcw, wie ich sie mir im Moment vorstellte, war nie erwähnt worden. Sie gehörte weder zu den Telefonleitungen noch zu den Terminalverbindungen. Sie unterschied sich von diesen wohl dadurch, daß über sie nicht aktiv kommuniziert wurde. Vielmehr wanderte von den ungeliebten Sensoren ein stiller Datenfluß auf irgendwelche Protokoll-bänder. Daten, die niemanden im Werk interessieren und die man vergessen kann, wenn es nicht gerade einen Alarm oder einen Unfall gibt. Ich verstand, warum das musikalische Durcheinander auf meiner Anlage mich so lange beschäftigt hatte: Die Störung kam von innen.
Ich stocherte in den Speckeiern und in den vielen Fragen herum, die mir durch den Kopf gingen. Vor allem brauchte ich zusätzliche Informationen. Mit Tho-80
mas, Ostenteich oder Oelmüller mochte ich jetzt nicht reden. Wenn sie eine rcw-rrz-Verbindung vergessen hatten, würde sie dies am Ende mehr beschäftigen als die Verbindung selbst. Ich mußte mir das rrz ansehen und dort jemanden erwischen, der mir die Systemzusammenhänge erklären konnte.
Von der Telefonkabine neben der Toilette rief ich Tietzke an. Beim rrz handelte es sich um das ›Regionale Rechenzentrum‹ in Heidelberg.
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