Selbstmord der Engel
und die anderen?«
Der Engel gab keine Antwort. Zumindest keine, die aus Worten bestand. Er »sprach« auf seine Weise, denn er bewegte jetzt die Augen und schaute. Er schaute an Carlotta vorbei. Sein Blick war nach links und auch nach rechts gerichtet, sodass das Vogelmädchen aufmerksam wurde. Es dachte an Belial und drehte ebenfalls den Kopf.
Nein, ihn gab es hier nicht. Er hielt sich nach wie vor versteckt, aber es hatte sich doch etwas verändert. Woher die zahlreichen Engel gekommen waren, hatte Carlotta nicht sehen können. Wahrscheinlich waren die auf die Diskussion aufmerksam geworden, und jetzt sahen sie das Mädchen und es sah sie.
Carlotta war zwar kräftig von ihrem Wachstum her, aber immer noch recht klein. So wurde sie von den meisten Engeln überragt. Sie hatten einen Kreis gebildet, was an diesem Ort gut möglich war, da keine Häuser störten. Sie standen da, ohne sich zu bewegen, und hätte es ein großes Dach gegeben, dann wäre sich Carlotta vorgekommen wie in einer Kirche, in der zahlreiche Engel standen und die Gläubigen bewachten.
Niemand redete. Sie waren und blieben stumm. Manche Oberkörper schimmerten hell, weil keine Kleidung sie verdeckte. Auch hier waren kaum geschlechtliche Unterschiede zu sehen. Es gab einige Gestalten, die gewisse Ansätze von Brüsten zeigten, ansonsten gab es keine Unterschiede zwischen Mann und Frau.
Leere Blicke. Kein Feuer, und Carlotta schüttelte den Kopf. Das konnte und wollte sie nicht akzeptieren. So war sie durch Maxine Wells nicht erzogen worden. Sie dachte nach, sie stellte sich oft quer, und das gab sie auch hier nicht auf.
»Ich verstehe euch nicht«, sagte sie mit halblauter Stimme. »Ich kann es wirklich nicht fassen. Das ist einfach nicht möglich. Das ist verrückt. Ihr könnt euch doch nicht so fertig machen lassen.«
Sie schwiegen.
Carlotta suchte nach neuen Worten, und mitten in ihre Gedankenwelt hinein brach das laute und hässliche Lachen, das sie kannte. Sie musste sich nicht erst umdrehen, um zu wissen, wer gelacht hatte.
Trotzdem tat sie es, denn sie wollte ihn sehen, und deshalb schwang sie nach rechts.
Belial stand wie ein König auf dem Dach einer Hütte. Für das Vogelmädchen aber war er der Satan in Person...
***
Carlotta wusste, dass sich die Dinge gedreht hatten. Dafür besaß sie ein gutes Gespür. Sie war zu weit gegangen, als sie versucht hatte, die Engel zu einem Aufstand gegen ihren Herrscher zu bewegen. So etwas konnte er nicht hinnehmen, und ihr war auch klar, dass sich sein Verhältnis zu ihr verändern würde oder schon verändert hatte. Er war nicht mehr bereit, Rücksicht auf sie zu nehmen.
Seine Flügel waren etwas gespreizt. Die Arme vorgestreckt und trotzdem angewinkelt. Hände, die Fäuste bildeten. Ein Gesicht, das seine Glätte verloren hatte und verzerrt war. Er zeigte jetzt sein wahres Gesicht. Er wollte sich die Macht nicht nehmen lassen, nicht von einem Vogelmädchen, das in seinem Nest zu einem Kuckucksei geworden war.
Das Lachen endete, als er plötzlich in die Hände klatschte. Seine Augen schimmerten auf. Es fehlte nur noch, dass sie Blitze versprüht hätten, ebenso wie die Hände. Der Mund stand offen, zugleich war er verzerrt, und Carlotta gelang es, einen Blick in seinen Rachen zu werfen, der ihr wie ein finsterer Schlund vorkam.
Die Begriffe bösartig, teuflisch und menschenverachtend kamen ihr in den Sinn. Am liebsten hätte sie laut geschrien und wäre auf ihn zugelaufen, doch sie riss sich zusammen und wartete erst mal ab, was der Engel der Lügen vorhatte.
Zunächst tat er nichts. Er genoss seinen Standplatz. Er senkte den Kopf und ließ seine Blicke über die Engel – seine Untertanen – wandern. In den Augen blieb eine Kälte zurück, wie sie nur im Reich der Finsternis ihren Ursprung haben konnte. Dunkel, ohne Gefühl. Und diese Blicke wanderten. Jeden einzelnen der Engel schauten sie an, als wollten sie tief in deren Seelen blicken.
Urplötzlich lachte er. Dann schüttelte er den Kopf, sodass seine grauen Haare flogen. Und er hatte auch endlich die richtigen Worte gefunden. Er senkte den Kopf, hob ihn wieder an, und genau in dieser Bewegung begann er zu sprechen.
»Habt ihr wirklich geglaubt, eine Revolution anfachen zu können? Habt ihr das wirklich? Nein, das kann nicht euer Ernst sein. Nicht gegen mich, nicht gegen den mächtigen Belial. Das kann nicht stimmen, das kann nicht passieren, das ist nicht möglich. Ich habe euch das Paradies erschaffen, und ihr wollt es
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