Selbstmord der Engel
ankam, konnte sie stur sein. »Wenn es so wäre, wie du es gesagt hast, dann hätten sie keinen Selbstmord zu begehen brauchen. Dann wäre es hier wirklich für sie das Paradies gewesen. Aber sie haben sich umgebracht. Ich konnte es mit meinen eigenen Augen sehen. Und sie haben sich auch einen Ort ausgesucht, an dem sich Zeugen befinden, damit sie erleben, was die Engel durchlitten haben. Du hast sie nicht in das Paradies gelockt, sondern in deine Hölle. In dein Paradies, das sich nur auf Lügen aufbaut. So ist es gewesen und nicht anders, Belial.«
Der Lügen-Engel hatte voller Staunen zugehört. »Für ein Kind weißt du sehr viel.«
»Ich bin kein Kind. Ich bin erwachsener als du es dir denken kannst. Ich habe viel gehört und erlebt, und ich konnte mir meine eigenen Gedanken machen. Ich habe bisher noch keine Engel gesehen, aber ich weiß, dass sie getäuscht worden sind. Getäuscht durch Lügen. Und jetzt haben sie keine Chance mehr, hier wegzukommen. Es sei denn, sie bringen sich um.«
Belial rieb seine Hände so heftig, dass die zuschauende Carlotta das Gefühl haben konnte, dass plötzlich Funken übersprangen. Das passierte nicht, es blieb bei den schabenden Geräuschen.
»Stimmt es?«
Der Lügen-Engel hatte seinen Spaß, als er nickte. »Ja, du hast die Wahrheit erfasst. Sie befinden sich in meinem Paradies. Ich habe sie hergelockt, denn ich will mir eine Armee aufbauen, und alle, die nicht auf meiner Seite stehen, lasse ich sterben. Sie können es nicht anders. Sie sind durch mich gezeichnet worden, durch meine Kraft, durch mein Licht, das in ihren Körpern steckt...«
Der letzte Satz war für Carlotta besonders wichtig. Das Licht war es also. Die Erinnerung drängte sich in ihr hoch. Sie dachte daran, wie der Engel auf dem Tisch gelegen und sich plötzlich in zwei Hälften geteilt hatte. Aus dem Spalt war das Licht gedrungen, bevor der Körper endgültig vergangen war.
Das also hatte das Licht zu bedeuten gehabt. Es war von Belial in den Körper hineingepresst worden. Sein Licht, seine Seele. Seine verfluchte Lügenkraft, und ihr konnten die Engel nur durch den Selbstmord entgehen. Dann waren sie erlöst, dann konnten sie aufatmen, dann erlebten sie möglicherweise das wahre Paradies.
Aber sie waren trotzdem noch schlau gewesen, denn sie hatten sich dort umgebracht, wo Menschen waren, die über den Tellerrand hinausdachten und nachdenken würden.
Die Wahrheit war die Lüge hier. Die Lüge wurde zur Wahrheit hochstilisiert.
So und nicht anders sah es aus. Und sie befand sich leider in dieser verdammten Welt.
Sie sah Belial lächeln. Für Carlotta war es ein böses und siegessicheres Grinsen. Kalt und gefühllos. Überhaupt nicht menschlich. So lächelte ein Herrscher, der keine Gnade kannte.
»Und jetzt bin ich hier«, sagte sie leise.
»Das stimmt.«
»Warum hast du mich geholt?«
»Oh – das ist ganz einfach. Du hast mich interessiert. Denke nur nicht, dass ich nichts weiß. Ich wusste, was mit diesem Engel passierte, als er sich umbrachte. Er hatte dich ebenfalls schon gesehen. Er wollte ein Zeichen hinterlassen, was er auch geschafft hat. Aber er dachte nicht, dass ich ihm auf der Spur war.«
Carlotta wollte endlich die Wahrheit erfahren und fragte: »Was willst du von mir? Was soll ich hier in deinem verfluchten Paradies?«
Die kalten Blicke des Lügen-Engels trafen sie musternd von oben nach unten. »Ich will dir die Antwort geben. Du hast mir gefallen. Ja, du hast mir wirklich gefallen. Du bist etwas Besonderes. Du bist eine wunderbare Züchtung, die ich gut gebrauchen kann. Ich werde dich behalten. Ich werde dich in meinem Namen losschicken, nachdem ich auch dich mit meinem Zeichen versehen habe. Du bist jemand, der Vertrauen erweckt trotz seiner Flügel, über die sich die meisten Menschen wundern werden. Wenn ich dich ins Spiel bringe, erhöhen sich meine Chancen, mehr Macht zu bekommen. Es gibt Unruhe in unseren Reichen. Etwas Uraltes ist zurückgekehrt. Der Schwarze Tod lauert. Er wird versuchen, überall an Einfluss zu gewinnen, und ich will nicht, dass er es in meinem Bereich tut. Ich muss etwas dagegen unternehmen und mich stärken.«
Carlotta hatte zugehört. Sie überlegte. Was war Lüge? Was entsprach der Wahrheit? Sie fand keine Antwort. Und auch von einem Wesen, das als Schwarzer Tod bezeichnet worden war, hatte sie noch nie zuvor gehört und dachte natürlich wieder an ein Lügengespinst.
»Ich will nicht dabei sein.«
»Du wirst es müssen!«
»Nein!« Sie
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