Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)
oder am Arbeitsplatz darauf, so auch einmal beim Mittagessen in der Kantine des Oberlandesgerichts. Ein Vorsitzender Richter sprach aus, was ich schon viel zu oft gehört hatte: »Nun lassen Sie es doch gut sein, Frau Peschel-Gutzeit. Mir haben die Schläge als Kind auch nicht geschadet.« Da platzte mir der Kragen. Aber ich wurde nicht laut, sondern sagte ruhig und gefasst: »Was wissen Sie, Herr Kollege, was für ein reizender Mensch aus Ihnen geworden wäre, wenn Ihre Eltern Sie nicht geschlagen hätten?« Es handelte sich um einen zwar intelligenten, aber schwierigen, selbstgerechten Mann, der mit Menschen, die ihm sozial nicht gewachsen waren, unangenehm umging. Meine Antwort verschlug ihm die Sprache. Und die Anekdote verbreitete sich wie ein Lauffeuer im ganzen Haus. Immer wieder wurde ich darauf angesprochen, manches Mal kommentierte ich das Thema mit den Worten: »Und? Was denken Sie, was aus ihm geworden wäre ohne Prügel?«
Im Jahr 2000 trat endlich das gesetzliche Verbot der Gewalt gegen Kinder in Kraft. Durchgesetzt hat es Herta Däubler-Gmelin (SPD), die damalige Bundesjustizministerin. Wir kennen uns seit langem, selbstverständlich wusste sie, dass ich seit Jahr und Tag mit dem Thema befasst war. So rief sie mich an und las mir Formulierungsentwürfe vor, die wir dann diskutierten.
Was tun, damit die Hand nicht »ausrutscht«? Was, wenn man sich über ein Kind schwarzärgert? Solche Situationen entstehen nicht aus dem Nichts, sie bahnen sich an. Man wird immer wütender. Bevor die Sache eskaliert, sollte man einen Schnitt machen, sich selbst zurücknehmen. Manche Eltern zählen bis hundert, bevor sie etwas sagen. Andere verlassen den Raum. Das habe auch ich getan. Mein Sohn Rolf, der Erstgeborene, war sehr temperamentvoll und brüllte manchmal, dass die Wände wackelten, wenn er sich ungerecht behandelt fühlte. Ich selbst hatte mich als Kind oft genauso verhalten, meine Schwester spricht heute noch von den Brüll-Arien, die ich aufführte. Wenn mein Sohn sich so aufregte, sagte ich zu ihm: »Rolf, ich weiß, du bist sehr wütend. Wenn dir danach ist, zu brüllen, dich auf dem Boden zu wälzen und in den Teppich zu beißen, dann musst du das wohl tun. Aber ich möchte nicht dabei sein. Ich gehe jetzt an meinen Schreibtisch. Wenn deine Wut zu Ende ist, kannst du zu mir kommen.« Manchmal schlug ich ihm auch vor, gemeinsam »das Böckchen hinauszubringen«. Dann nahm ich ihn bei der Hand, wir gingen an die frische Luft, liefen ein paar Schritte, atmeten ein paarmal tief ein und aus. Rolf beruhigte sich, und als wir wieder ins Haus gingen, sagte ich: »Sieh, jetzt ist das Böckchen fort.« Da lächelte er, der ganze Ärger war verflogen.
Es ist unzweifelhaft eine Frage des Willens, ob man zuschlägt oder nicht. Ich bin genauso reizbar wie jeder andere Mensch, auch meine Nerven lagen manches Mal blank. Doch dieser Umstand gibt niemandem das Recht, gewalttätig zu werden. Oft habe ich schlagende Eltern gefragt: »Würden Sie auch einen kräftigen sechzehnjährigen Jungen schlagen?« Die Antwort lautete immer wieder: »Nein, natürlich nicht.« – »Und warum nicht?« – »Er könnte ja zurückschlagen.« Das bedeutet: Wer schlägt, nutzt seine physische Überlegenheit aus. Ein feiges Verhalten, das dem Selbstwertgefühl jedes Kindes schadet.
Im Übrigen handelt es sich bei der Gewalt gegen Kinder meiner Einschätzung nach um eine Degeneration des Menschen. Kein Tier tut seinen Jungen Gewalt an. Die Großen stupsen und schubsen ihre Kleinen, um ihnen etwas beizubringen. Aber sie fügen ihnen niemals absichtlich Schmerzen zu.
Rolf wurde 1963 geboren, da war ich 30 Jahre alt und arbeitete seit drei Jahren als Richterin in Hamburg. 1967 folgte meine erste Tochter, 1970 kam Andrea zur Welt. Jedes meiner Kinder zeigte schon früh eine ausgeprägte Persönlichkeit, und jedes unterschied sich charakterlich stark von seinen beiden Geschwistern.
Von klein auf war Rolf ein Tüftler, voller Experimentierfreude, am liebsten bastelte er allein vor sich hin und versank dann tief in dem, was er tat. Andererseits hatte er ein zartes Gemüt, war sehr feinfühlig. Er konstruierte die interessantesten Bauwerke aus Lego, bei denen überhaupt nicht zu verstehen war, wie sie stehen bleiben konnten. Sie hatten die gewagtesten Überhänge – statisch unmöglich, aber es hielt, bis zu einem gewissen Punkt. Wenn solch ein Bauwerk dann doch zusammenbrach, schrie und weinte Rolf, weil er so wütend auf sich selbst war,
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