Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)
Nacken gerade abgeschnitten. Außerdem hatte sie eine tiefe Stimme, nicht männlich, aber durchdringend. Mit ihren großen blauen Augen fixierte sie ihre Gesprächspartner sehr genau. Oh, oh, dachte ich mir, das bist du nicht, das kannst du nicht. Denn ich selbst bin äußerlich immer eher ein weiblicher Typ gewesen. Ich mag elegante, weibliche Kleidung, mir gefallen farbige Blusen, ich mag Blumenmuster, und mein Haar trage ich seit jeher lang und hochgesteckt.
Nach ein paar Tagen kam ich zur Besinnung und beschloss, die Chance zu nutzen. Hör endlich auf mit deinen Vorurteilen!, befahl ich mir selbst. Im Grunde genommen hat mich an allen Menschen stets der Geist interessiert, weit mehr als das Äußere. Ein Mann hat für mich Sexappeal, wenn er intelligent ist. Und als Kolleginnen oder Freundinnen faszinieren mich gescheite, aufgeschlossene, gebildete Frauen. Auch dachte ich damals, als Dreiundzwanzigjährige, dass ein halbes Jahr in der Kanzlei von Frau Dr. Plum wohl nicht meinen ganzen Lebensweg beeinflussen würde, sondern eher eine interessante Erfahrung unter vielen wäre. Tatsächlich – und zu meinem Glück – entwickelte sich die Sache dann anders als gedacht.
Ein Problem meiner Generation war, dass es in der Berufswelt kaum weibliche Vorbilder gab. Es mangelte an Frauen mit wirtschaftlicher, politischer oder gesellschaftlicher Macht und Verantwortung. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Noch immer ist es für Mädchen und junge Frauen keine Selbstverständlichkeit, sich an den Karrieren älterer Frauen zu orientieren und von ihnen zu lernen. Wenn überhaupt, nehmen Mädchen am ehesten Fotomodelle, Schauspielerinnen oder Popsängerinnen als Vorbilder wahr, weil die Anzahl der berühmten, erfolgreichen Frauen in diesen Bereichen relativ hoch ist. Jungen hingegen orientieren sich oft an namhaften Managern oder Unternehmern. Statt in einer Glitzerwelt leben solche Vorbilder in einem Umfeld, in dem es um Einfluss, Verantwortung, Entscheidungen geht – sowie um schicke, große Büros, ansehnliche Dienstwagen und hohe Gehälter.
Während meines halben Jahres als Referendarin in der Kanzlei Dr. Plum hatte ich Gelegenheit, nicht nur die Arbeitsinhalte eines Rechtsanwalts kennenzulernen, sondern auch weibliche Vorbilder zu finden. Alle drei Chefinnen beeindruckten mich durch ihre Versiertheit, ihre Disziplin, ihren ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, ihr unabhängiges Denken und souveränes Auftreten, ihre natürliche Selbstsicherheit. Dennoch hatten die Frauen ganz unterschiedliche Charaktere, was ich sehr bemerkenswert fand. So lernte ich, dass man keinem bestimmten Typ entsprechen musste, um als Anwältin zu Erfolg und Ansehen zu gelangen. Frau Plum war als eine der ersten Frauen überhaupt für das juristische Staatsexamen zugelassen worden und lebte für den Beruf, sie blieb unverheiratet. Auch Frau Fettweis hatte keine Familie, war aber äußerlich ein ganz anderer Typ, viel weiblicher. Sie hatte lockiges Haar, trug flotte Kostüme und hübsche Blusen, dazu Schuhe mit hohen Absätzen. Frau Huber-Simons ähnelte äußerlich Frau Plum, aber sie war verheiratet und Mutter von fünf Kindern. Darunter übrigens Wolfgang Huber, der später Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland wurde.
Frau Dr. Plum stellte hohe Ansprüche an sich selbst wie auch an ihre Mandanten. Sie nahm nicht jeden Fall an, sondern stellte Bedingungen. Ihre Mandanten mussten fest zusagen, alle nötigen Informationen zu liefern, nichts zu verschweigen und immer die Wahrheit zu sagen. Stellte sich heraus, dass ein Mandant sie belogen hatte, legte sie das Mandat nieder. Auch ließ sie sich, bevor sie ein Mandat übernahm, die kompletten Unterlagen dazu übergeben. Sie schaute sich alles an und entschied erst dann, ob sie den Fall bearbeiten konnte und wollte oder nicht. Ebenso anspruchsvoll waren sie und ihre Partnerinnen gegenüber den Mitarbeitern. Insgesamt arbeiteten etwa zwanzig Personen in der Kanzlei: neben den Chefinnen noch vier bis fünf weitere Juristen, mehrere Steuerberaterinnen sowie Anwalts– und Notargehilfinnen und Sekretärinnen.
Als Kind und junge Frau hatte ich eine ausgeprägte Neigung zur Unordnung und Unpünktlichkeit. Erschien ich nun eine Minute zu spät in der Kanzlei, so hieß es: »Guten Morgen. Es ist eine Minute nach acht.« Nicht: »Würden Sie bitte künftig früher hier sein?« Nein, nur: »Es ist eine Minute nach acht.« Das führte dazu, dass ich nicht selten mit offenem Haar bei
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