Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)
um den es ging, war für Familiensachen und weitere Rechtsgebiete zuständig, darunter Handelsrecht, Registerrecht und Wohnungseigentumsrecht. Zusätzlich landeten sämtliche streitigen Erbrechtssachen aus Hamburg in zweiter Instanz bei diesem Senat. Außerdem gab es weit und breit keine vorsitzende Frau. Der Präsident und der Vizepräsident des OLG waren Männer, ebenso sämtliche Senatspräsidenten. Wir hatten das Jahr 1984, und ich fand: Jetzt muss diese Männerdominanz ein Ende haben!
Ich bewarb mich und ging davon aus, an einem fairen Wettbewerb teilzunehmen. Das war reichlich blauäugig von mir. Es folgte ein Gewitter von Intrigen. Einige Kollegen verfolgten mit allen Mitteln nur ein Ziel: mich zu verhindern.
An jedem Gericht gibt es einen Präsidialrat, ein Richtergremium, das zu Beförderungen Stellung bezieht. Über mich schrieben die Kollegen aus dem Präsidialrat: »Frau Peschel-Gutzeit ist weder fachlich noch persönlich geeignet, den Senatspräsidentenposten auszufüllen.« Das hieß auf Deutsch: Sie taugt zu nichts. Wer so etwas über sich hört, muss übernatürliche Kräfte haben, um nicht in die Knie zu gehen. Eine Freundin von mir, ebenfalls Juristin und ehemals im diplomatischen Dienst tätig, sagte: »Lore, die Herren haben den Bogen überspannt. Sie hätten dir schaden können, indem sie behaupten, du seist eine nette Person, aber fachlich nicht geeignet. Sie hätten dir auch schaden können mit der Feststellung, du seist fachlich zwar gut, aber persönlich unerträglich. Dadurch, dass sie dir beides absprechen, stellen sie sich selbst als Intriganten bloß.«
Trotzdem verlor ich den Mut, ich war fertig mit der Welt, ich verlor meinen Glauben an die Kollegialität und war drauf und dran, auch meinen Glauben an die Gerechtigkeit zu verlieren. So wandte ich mich an meinen Vorsitzenden, der mich zur Bewerbung animiert hatte, und sagte, ich wolle meine Bewerbung zurückziehen.
»Eine Bewerbung zieht man nicht zurück«, kommentierte der Vorsitzende meinen Plan trocken.
»Sie meinen, ich soll mich weiter demütigen lassen?«
»Nein, das müssen Sie nicht. In der Tat sind Sie ein wehrloses Opfer, Sie können nichts machen. Aber ich trage Verantwortung für Sie, ich schätze Sie und halte Sie für sehr geeignet. Ich werde mich für Sie einsetzen.«
Zu Hause hielten wir Familienrat, meine Kinder unterstützten mich auf rührende Weise. Für den Fall, dass meine Feinde siegen und ich mit meiner Bewerbung scheitern würde, fasste ich den Entschluss, der Justiz den Rücken zu kehren. »Das ist völlig richtig«, sagte mein Sohn Rolf. »Du darfst dich nicht erniedrigen lassen.« Ich wollte mich als Rechtsanwältin in Schleswig-Holstein selbständig machen, denn es war nicht zulässig, im Anschluss an ein Richteramt im selben Bundesland als Anwalt zu praktizieren. Da man zu Beginn einer Selbständigkeit kaum Geld verdient, boten meine Kinder mir finanzielle Unterstützung an. Sie hatten gerade ihren Vater verloren und etwas Geld geerbt.
Für die Wahl der Vorsitzenden Richter am OLG, damals Senatspräsidenten genannt, ist in Hamburg der Richterwahlausschuss zuständig. Dem Ausschuss gehören an:
– drei Senatoren (die den Ministern in anderen Bundesländern entsprechen) oder Staatsräte (entsprechen den Staatssekretären),
– drei Richter,
– zwei Rechtsanwälte,
– sechs »bürgerliche Mitglieder« (vom Hamburger Parlament, der Bürgerschaft, gewählt).
Die Sitzungsleitung obliegt dem Justizsenator oder der Justizsenatorin, der oder die zudem Stimmrecht hat.
Bei der mich betreffenden Sitzung im Richterwahlausschuss spielten sich Szenen ab, die mir bis heute unbegreiflich sind. Ich durfte, wie alle Bewerber, nicht teilnehmen, aber mir wurde Erschütterndes berichtet. Besonders ein Richter machte Front gegen mich, er tat alles, um mich beruflich ein für alle Mal zu vernichten. Während der Sitzung des Richterwahlausschusses soll er genüsslich Entscheidungen von mir vorgetragen haben, die in der nächsten Instanz aufgehoben worden waren. Seit einem Vierteljahrhundert übte ich den Richterberuf aus, selbstverständlich war auch mir das passiert, was jedem Erst– und Zweitinstanzrichter hin und wieder passiert: dass die Kollegen der nächsten Instanz zu einem anderen Schluss kommen. Genau dafür gibt es Instanzen – wenn alles immer bestätigt würde, bräuchte man sie nicht. Ich hatte bereits zwölf Jahre in der zweiten Instanz gearbeitet und Urteile der ersten Instanz aufgehoben,
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