Selbstverständlich gleichberechtigt: Eine autobiographische Zeitgeschichte (German Edition)
vielfältige Materien kennen, ich traf viele Menschen und lernte, mit verschiedenen Menschen auszukommen. Zugleich wuchs die Zahl meiner Beurteilungen in meiner Personalakte, sodass die Verwaltung einschätzen konnte, wie ich mich entwickelte.
Durch mein Engagement für die »Lex Peschel« stieg mein Bekanntheitsgrad in und außerhalb von Juristenkreisen schlagartig. Nicht bewusst, nicht aus karrieretaktischen Gründen erreichte ich Aufmerksamkeit, sondern aus meinem Gerechtigkeitsbedürfnis heraus ; weil ich gesellschaftliche Missstände beheben wollte, war ich aus der grauen Masse hervorgetreten. Die »Lex Peschel« war gewissermaßen die Feder an meinem Hut. Meine Bekanntheit hatte jedoch nichts zu tun mit Popularität, keineswegs war ich Everybody’s Darling, sondern galt vielen als unbequeme Person. Wer polarisiert, gewinnt Freund und Feind.
In den folgenden Jahren und Jahrzehnten erlangte ich Aufmerksamkeit – wiederum nicht um der Bekanntheit, sondern um der Sachen willen – im Rahmen meiner ehrenamtlichen Tätigkeiten für den Deutschen Juristinnenbund und den Deutschen Frauenrat. Gemeinsam mit anderen Juristinnen setzte ich mich für Gesetzesänderungen ein, viele Male trat ich vor dem Bundesverfassungsgericht auf.
Nachdem im Jahr 1977 ein neues Familienrecht in Kraft trat, wurden Familiengerichte bei den Amtsgerichten gegründet. Die Oberlandesgerichte, die bis dahin mit Familiensachen kaum etwas zu tun gehabt hatten, wurden zur zweiten Instanz. Deshalb musste am Hanseatischen Oberlandesgericht ein Familiensenat eingerichtet werden. Der Präsidialrichter kam auf mich zu und sagte: »Frau Peschel-Gutzeit, Sie sollten am neuen arbeiten. Ich denke, Sie sind einverstanden?« Nein, ich war gar nicht einverstanden. Mich nur noch mit dem Streit innerhalb von Familien zu befassen, mit Unterhalts– und Sorgerechtskonflikten, darauf hatte ich überhaupt keine Lust. Zumal ich selbst wenige Jahre zuvor eine extrem anstrengende Ehescheidung hinter mich gebracht hatte. Soweit ich wusste, gab es im ganzen Haus keinen Richter, der den Wunsch verspürte, zum Familiensenat zu gehen. Aber ich bezog dem Präsidialrichter gegenüber zunächst keine Stellung, sondern fragte nach: »Warum ›sollte‹ ich am Familiensenat arbeiten? Warum meinen Sie, ich sei einverstanden?« Der Präsidialrichter hatte von meinem Staudinger- Vertrag erfahren. »Jeder kann nein sagen, wenn es um den Familiensenat geht«, fand er. »Nur Sie nicht. Sie werden das Familienrecht im Staudinger kommentieren, deshalb sind Sie für diesen Senat prädestiniert.« Der Argumentation konnte ich mich nicht widersetzen und willigte notgedrungen ein.
Entgegen meiner Erwartung folgte eine sehr schöne und interessante Zeit. Sicher, die Prozesse nahmen mich oft nicht nur professionell, sondern auch persönlich in Anspruch. Mancher Sorgerechtsfall ließ mich kaum los, ständig musste ich an die Kinder denken, über deren Zukunft ich zu entscheiden hatte. Aber am meisten zählte für mich, dass es eine wichtige und sinnvolle Arbeit war. Und fachlich war alles neu, es war eine aufregende Zeit. Bis heute hat mich das Familienrecht nicht losgelassen. Noch weit über dreißig Jahre nach meinen ersten Tagen als Familienrichterin am Hanseatischen OLG beschäftige ich mich täglich mit Familienrechtsfragen.
»Frau Peschel-Gutzeit, Sie sollten sich bewerben«, sagte mein Vorsitzender 1984, als der Vorsitz des Nachbarsenats frei wurde. »Sie haben Erfahrung, Sie sind jetzt so lange meine Stellvertreterin und haben mich monatelang vertreten. Es ist keine Frage, Sie können das.«
In der Tat sprachen viele Gründe für eine Bewerbung: Ich arbeitete bereits seit zwölf Jahren am OLG, davon sechs Jahre in einem Familiensenat. Seit 1978 war ich nicht nur Beisitzerin, sondern auch stellvertretende Vorsitzende eines Familiensenats, 1980 hatte ich zusätzlich den stellvertretenden Vorsitz eines weiteren Familiensenats übernommen. Im selben Jahr hatte mein Vorsitzender in einer Beurteilung geschrieben, ich sei »sowohl fachlich als auch persönlich (…) gut geeignet, den Vorsitz in einem Senat des Oberlandesgerichts, insbesondere einem Familiensenat, zu führen«. Ebenfalls im Jahr 1980 hatte der Präsident des Hanseatischen Oberlandesgerichts geschrieben: »Ich halte Frau Peschel-Gutzeit in jeder Hinsicht für geeignet, als Bundesrichterin an den Bundesgerichtshof berufen zu werden.«
Auch erschien mir die freigewordene Position inhaltlich hochinteressant. Der Senat,
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