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anders. Er wurde nicht gelassener, sondern sah von Sekunde zu Sekunde verstörter aus. Als ich diese Verlorenheit in seinen Augen wahrnahm, verrauchte meine Wut augenblicklich, und ich fühlte mich schuldig. Ich hatte ihn doch verwöhnen, nicht kränken wollen.
»Ich liebe dich«, flüsterte ich.
Aspen schüttelte den Kopf.
»Ich liebe dich auch, America.« Aber er sah mich immer noch nicht an. Ich griff nach einem Stück von meinem selbst gebackenen Brot und reichte es ihm. Er war zu hungrig, um nicht hineinzubeißen.
»Ich wollte dich nicht verletzen. Ich dachte, du würdest dich freuen«, sagte ich.
»Das tue ich ja auch, Mer. Ich kann nicht fassen, dass du das alles für mich gemacht hast. Es ist nur … du kannst dir nicht vorstellen, wie schlimm es für mich ist, dass ich mich nicht revanchieren kann. Du hast etwas Besseres verdient.« Ich war erleichtert, dass er beim Sprechen weiteraß.
»Hör bitte auf, so zu denken«, sagte ich. »Wenn wir zusammen sind, spielt das doch keine Rolle mehr, dass ich zu den Fünfern gehöre und du eine Sechs bist. Dann sind wir nur noch Aspen und America. Und ich will nichts anderes auf der Welt, nur dich.«
»Aber ich kann nun mal nicht damit aufhören.« Er sah mich an. »Ich wurde so erzogen. Seit meiner Kindheit höre ich ›Sechser sind zum Dienen geboren‹ und ›Sechser sollte man nicht sehen‹. Man hat mir beigebracht, unsichtbar zu sein.« Er griff nach meiner Hand und hielt sie fest umklammert. »Und wenn wir ein Paar werden, dann wirst auch du unsichtbar sein, Mer. Das möchte ich nicht.«
»Aber, Aspen, darüber haben wir doch gesprochen. Ich weiß, dass sich vieles ändern wird, und ich bin darauf vorbereitet. Ich weiß nicht, wie ich dir das noch begreiflicher machen soll.« Ich legte meine Hand auf sein Herz. »In dem Moment, in dem du bereit bist, mich zu fragen, ob ich deine Frau werden will, werde ich Ja sagen.«
Es machte mir Angst, mich so zu offenbaren, meine Gefühle in all ihrer Wucht preiszugeben. Er wusste das auch. Aber wenn ich Aspen Mut zusprechen konnte, indem ich mich selbst verletzlich machte, war es das wert. Er sah mich forschend an. Doch wenn er in meinem Gesicht nach Zweifeln suchte, vergeudete er seine Zeit. Meiner Gefühle für Aspen war ich mir absolut sicher.
»Nein.«
»Was?«
»Nein.«
Das Wort fühlte sich an wie ein Schlag ins Gesicht. »Aspen?«
»Ich weiß nicht, wie ich mir einreden konnte, dass das gut gehen könnte.« Er fuhr sich wieder durch die Haare, als versuchte er krampfhaft, alle Gedanken an mich aus seinem Kopf zu vertreiben.
»Aber du hast doch gerade gesagt, dass du mich liebst.«
»Das tue ich doch auch, Mer. Das ist es ja eben. Ich bringe es nicht übers Herz, dich auf meine Ebene herunterzuziehen. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass du Hunger, Kälte oder Angst erdulden musst. Ich will dich nicht zu einer Sechs machen.«
Ich spürte, wie mir die Tränen kamen. Das meinte er nicht so. Das durfte nicht sein. Aber bevor ich ihm sagen konnte, dass er seine Äußerung zurücknehmen sollte, stand Aspen bereits auf.
»Was … wohin willst du?«
»Ich gehe. Nach Hause. Es tut mir leid, dass ich dir das angetan habe, America. Es ist aus zwischen uns.«
»Was?«
»Es ist aus. Ich werde nicht mehr herkommen. Nicht so.«
Ich fing an zu weinen. »Bitte, Aspen, lass uns darüber reden. Du bist jetzt nur durcheinander.«
»Ja, mehr, als du ahnst, sogar. Aber ich bin nicht wütend auf dich. Es geht nur einfach nicht, Mer. Es geht nicht.«
»Aspen, bitte?…«
Er zog mich fest an sich und küsste mich leidenschaftlich – ein letztes Mal. Dann verschwand er in der Dunkelheit. Und weil dieses Land so ist, wie es ist, weil es so viele Regeln gibt, die uns einschränken, konnte ich ihm nicht einmal nachrufen. Um ihm noch einmal zu sagen, wie sehr ich ihn liebte.
In den nächsten Tagen schien meine Familie zu spüren, dass etwas nicht stimmte, aber offenbar dachten alle, ich sei aufgeregt wegen des Castings. Mir war die ganze Zeit zum Weinen zumute, aber ich riss mich zusammen. Ich kämpfte mich irgendwie durch bis zum Freitag und hoffte, dass alles wieder normal sein würde, wenn im Bericht vom Capitol die Namen der erwählten Mädchen verkündet wurden.
Ich stellte mir vor, wie Celia oder Kamber aufgerufen würden und wie enttäuscht Mom dann sein würde (allerdings nicht ganz so enttäuscht wie bei völlig fremden Mädchen). Dad und May würden sich auf jeden Fall für die beiden freuen,
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