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kicherte und schloss meinen Briefeschatz in die Arme. Unter allen Umständen musste ich ihnen so bald wie möglich antworten. Irgendwo gab es bestimmt auch ein Telefon, aber bislang hatte uns noch niemand darauf hingewiesen. Und selbst wenn ich eines auf dem Zimmer hätte, wäre es sicher unsinnig teuer, täglich zu Hause anzurufen. Außerdem waren Briefe ein schönes Souvenir. Beweisstücke dafür, dass ich wahrhaftig hier gewesen war, wenn das alles irgendwann nur noch eine Erinnerung sein würde.
Mit dem tröstlichen Wissen, dass meine Familie wohlauf war, ging ich ins Bett und sank in einen tiefen Schlaf. Nur ab und an erfasste mich eine leichte Unruhe, weil ich am nächsten Tag wieder mit Maxon alleine sein würde. Warum mich das so nervös machte, konnte ich nicht ganz begreifen.
*
»Würden Sie bitte meinen Arm nehmen, um den Schein zu wahren?«, fragte Maxon, als er mich an meinem Zimmer abholen kam. Ich zögerte zuerst, ließ mich dann aber darauf ein.
Meine Zofen hatten bereits mein Abendkleid für mich ausgewählt: ein schmales blaues Etwas mit Empiretaille und angeschnittenen Ärmeln. Meine Arme waren nackt, und ich spürte den gestärkten Stoff von Maxons Ärmel an der Haut. Ich fühlte mich sehr unbehaglich, was ihm wohl auffiel, denn er versuchte, mich abzulenken.
»Es tut mir leid, dass sie nicht geweint hat«, sagte er pflichtschuldig.
»Nein, tut es Ihnen nicht«, erwiderte ich leichthin, um dem Prinzen klarzumachen, dass ich meine Niederlage nicht allzu schwernahm.
»Ich habe noch nie eine Wette abgeschlossen. Es hat Spaß gemacht, zu gewinnen.« Sein Tonfall war entschuldigend.
»Anfängerglück.«
Er grinste. »Mag sein. Beim nächsten Mal werden wir versuchen, sie zum Lachen zu bringen.«
Ich überlegte sofort, was May wohl so komisch finden würde, dass sie in Lachen ausbrach.
Maxon spürte, dass ich an sie dachte. »Wie ist Ihre Familie?«
»Wie meinen Sie das?«
»Genau so, wie ich es sagte. Ihre Familie ist wohl ganz anders als meine.«
»Kann man wohl sagen.« Ich lachte. »Bei mir zu Hause trägt keiner ein Diadem zum Frühstück.«
Maxon lächelte. »Bei Ihnen macht man das also nur zum Abendessen?«
»Ganz genau.«
Er kicherte, und mir kam der Gedanke, dass Maxon vielleicht doch nicht so hochnäsig und eingebildet war, wie ich anfänglich befürchtet hatte.
»Also, ich bin das mittlere Kind von fünfen.«
»Fünf!«
»Ja, fünf. Bei uns haben die meisten Familien so viele Kinder. Ich würde das auch wollen, wenn ich es mir aussuchen könnte.«
»Wirklich?« Maxon zog die Augenbrauen hoch.
»Ja«, antwortete ich leise. Das erschien mir plötzlich wie ein sehr intimes Geständnis. Es gab bislang nur einen einzigen anderen Menschen, der davon wusste.
Eine Welle von Traurigkeit erfasste mich, aber ich riss mich zusammen.
»Meine Schwester Kenna, die Älteste von uns, ist mit einem Vierer verheiratet und arbeitet jetzt in einer Fabrik. Meine Mutter möchte, dass ich mindestens einen Vierer heirate, aber ich möchte meinen Gesang nicht aufgeben, ich hänge zu sehr daran. Jetzt bin ich ja wohl eine Drei. Das fühlt sich seltsam an. Aber ich will auf jeden Fall beruflich etwas mit Musik machen.
Mein älterer Bruder Kota ist Maler. Wir sehen ihn nicht oft. Er ist zu meiner Verabschiedung gekommen, aber das war es dann auch. Nach ihm wurde ich geboren.«
Maxon lächelte. »America Singer«, verkündete er. »Meine beste Freundin.«
»Ganz recht.« Ich verdrehte die Augen. Es war ausgeschlossen, dass ich jemals seine beste Freundin würde. Zumindest vorerst nicht. Aber ich musste mir eingestehen, dass er der einzige Mensch war, dem ich außer meiner Familie oder Aspen jemals etwas anvertraut hatte. Na gut, Marlee vielleicht noch. Aber würde ich zu Maxon so viel Vertrauen haben können?
Gemächlich schritten wir den Flur entlang zur Treppe. Der Prinz schien es nicht eilig zu haben.
»May ist meine jüngere Schwester. Die mich verraten und verkauft hat, indem sie nicht weinte. Ganz ehrlich, wie konnte sie mir das antun! Ich kann einfach nicht fassen, dass ihr nicht die Tränen gekommen sind! Na, jedenfalls … sie ist auch künstlerisch sehr begabt, und ich finde sie wunderbar.«
Maxon sah mich forschend an. Über May zu sprechen tat mir gut. Dennoch wusste ich nicht, wie offen ich mit Maxon sein wollte, auch wenn er mir immer sympathischer wurde.
»Und dann Gerad. Er ist das Nesthäkchen, sieben Jahre alt, und weiß noch nicht, ob er eher zur Musik oder zur Kunst
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