Selig in Kleinöd: Kriminalroman (German Edition)
im Rahmen langer Telefonate mehrfach übermalten roten Herzchen, und Hellmann Edwin. Das musste der Bruder sein. Sie notierte sich dessen Anschrift und Telefonnummer. Die Wände des Hellmannschen Privatbüros waren bis zur Decke mit Bücherregalen gepflastert, in denen sich vor allem dicke Wälzer mit dunklen Lederrücken und Hefte und Notizbücher befanden. Gebündelte Briefstapel schienen einer Auswertung entgegenzusehen. »Material für das Gläserne Vilstal«, vermutete Franziska.
Bruno griff wahllos nach einem der Notizbücher und schlug es auf. »Um Gottes Willen, da muss man ja Schriftsachverständiger sein, um das lesen zu können.«
»Ich glaube, man muss besessen sein«, murmelte Franziska, »oder sehr viel Zeit haben. Aber was ist mit dem Gläsernen Vilstal, vom dem die Halber Gertraud und auch der Hiendlmayr sprachen? Wie gesagt, sie haben nur darüber gesprochen, gesehen haben sie es nicht. Angeblich ist es ja in dieser Wohnung.«
»Wir waren noch nicht im Wohnzimmer.« Bruno ging ihr voran.
Das Wohnzimmer war ein großer leerer Raum mit weißen Wänden und einem Holzfußboden. Es gab kein einziges Möbelstück. Weiße Leinenvorhänge filterten das Tageslicht. Bruno drückte auf den Lichtschalter. Die Deckenstrahler ließen sich mittels eines Dimmers regeln, und er drehte sie bis zur höchsten Stufe auf.
Dann sahen sie es: Die weiß gestrichenen Wände waren mit Buchstaben, Zahlen und Zeichen versehen. Für Geburtstage stand ein Stern, die Eheschließung war durch zwei miteinander verbundene Ringlein gekennzeichnet, ein Kreuz wies das Sterbedatum aus. Den Kommissaren eröffnete sich ein Geflecht von Schicksalen, reduziert auf wesentliche Lebensdaten wie Geburt, Heirat, Nachwuchs, Tod. Die Aufzeichnungen reichten bis ins Jahr 1067 zurück. Alle legalen Verbindungen waren mit schwarzem Filzstift gezeichnet, darüber aber hatte Günther Hellmann in Rot die Informationen aus den nachgelassenen Hebammennotizen, Tagebüchern und Briefen eingetragen. Dieses Netz war fast ebenso dicht gewoben wie das der offiziellen Nachkommen.
»Donnerwetter.« Bruno staunte.
»Was für eine Fleißarbeit!« Mit ausgestrecktem Zeigefinger suchte Franziska nach den Lebensdaten der Brunner- und der Harbingerlinien und fand sie nach etwa vier Minuten. Tatsächlich, da waren sie alle vermerkt: Malwine, Hannes und Hermann Brunner, die ehe- und kinderlose Agnes Harbinger und die beiden Harbingerbrüder, von denen der eine den Hof übernommen hatte und kinderlos geblieben war, während der andere, Andreas, die Kalkhölzl geheiratet hatte. Mit der Hiendlmayr Beate allerdings war er durch ein rotes Band verknüpft, das wiederum auf Meinrad verwies.
Beeindruckt wandte Franziska sich an Bruno. »Deine Erpressungstheorie ist in der Tat nicht von der Hand zu weisen.«
»Sag ich doch.«
»Aber der hat nie jemanden in die Wohnung gelassen. Und zwar deshalb.« Sie wies auf die Wandzeichnungen. »Gertraud beispielsweise wusste nicht einmal, wo genau er wohnte, hat ihm in Zeiten des Internets vermutlich nie einen richtigen Brief schreiben wollen. Und ich glaube ihr und vor allem ihm. Hätte ich eine solche Infobombe an meiner Wand – ich wäre auch sehr, sehr vorsichtig.«
Bruno schob sich eine Lesebrille auf die Nase, die er sich nicht wegen seiner Augen, sondern wegen des Designs gekauft hatte und die ihm wirklich ungewöhnlich gut stand, und ging ganz nah an die Wand heran.
»Hör mal, was für wunderbare Namen: Handgrödinger, Warmprechtshammer, Oberholzhäuser, Popfinger …« Plötzlich hielt er inne. »Sag mal, meinst du, da gibt’s auch einen Kleinschmidt? Meine Vorfahren sind zwar erst um 1830 hier eingewandert – aber man weiß ja nie.«
»Und was machst du, wenn du ein Bankert bist?«
»Dann such ich meinen Vater – so wie es auch der Hiendlmayr gemacht hat.«
Sie biss sich nachdenklich auf die Lippen. »Eigentlich müsste er so was wie ein Register angelegt haben, unterteilt in Planquadrate wie bei Landkarten. Sonst findet man ja nichts wieder. Möglicherweise aber hat er auch alles im Kopf gehabt.« Sie stutzte. »Hast du eigentlich so was wie einen Computer gesehen?«
Bruno schüttelte den Kopf. »Wir haben allerdings noch nicht die Aktenschränke geöffnet. Da könnte durchaus ein Laptop drin sein.« Neugierig suchte er weiter nach Namen auf der Wand und pfiff plötzlich erstaunt. »Du, schau mal, was ist das denn?«
Franziska trat näher.
Anstelle einer dicken roten Linie waren einige Namen mit dünnen und
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