Selig in Kleinöd: Kriminalroman (German Edition)
Bruder wurde am Samstag gegen neunzehn Uhr mit einer Schrotflinte erschossen.«
»Was, am Samstag schon, und da kommen Sie erst jetzt zu mir?« Wieder dieser vorwurfsvolle und aggressive Blick. Vermutlich hatten all seine Mitarbeiter Angst vor ihm.
Franziska bemühte sich, ihre Stimme nicht nach Rechtfertigung klingen zu lassen: »Ich habe erst heute erfahren, dass der Verstorbene einen Bruder hat. Bislang hieß es, es gebe keine Verwandten.«
»Von wem?« Edwin Hellmann zog die Stirn kraus.
»Von seiner Verlobten.«
Zum ersten Mal zeigte ihr Gegenüber so etwas wie Überraschung. »Nee, das glaub ich nicht.«
»Doch, so ist es aber. Er ist übrigens vor dem Haus dieser Verlobten erschossen worden.«
Edwin Hellmann ließ sich in einen Sessel fallen und sah kurz zu ihr auf. Dann sagte er: »Setzen Sie sich.« Es klang wie ein Befehl.
Sie nahm einen der schwarzen Lehnstühle und setzte sich in einem Winkel von neunzig Grad zu ihm. Eigentlich hätten sie sich Auge in Auge gegenübersitzen müssen. Nur dann hätte sie auch die kleinsten Irritationen in seinem Gesicht registriert, aber erstens war dieser Mann kein Verdächtiger, und zweitens ging von ihm eine unangenehme Unruhe aus, gepaart mit Verachtung, der sie sich nicht frontal aussetzen wollte.
Edwin Hellmann starrte nun auf seine Hände. »Glauben Sie, das war ein Nebenbuhler? Eine Eifersuchtstat?« Er war zum ersten Mal gesprächsbereit.
Franziska hob die Schultern, dann fragte sie: »Wann haben Sie Ihren Bruder zuletzt gesehen?«
Er faltete seine Hände und dachte nach: »Auf unserer Hochzeit, glaube ich. Das ist aber auch schon zehn Jahre her, mindestens. Die Kleine wird ja schon bald neun.«
Kopfschüttelnd sah sie ihn an: »Wollen Sie etwa damit sagen, dass Ihr Bruder zu keinem Ihrer Familienfeste kam, bei keinem Ihrer Kinder Pate ist?«
»Ja, so ist es.« Er seufzte. »Das hört sich in dieser Situation vielleicht albern an, aber jetzt tut es mir irgendwie leid. Mein Bruder Günther hatte nie Zeit. Und ich auch nicht. Scheint in der Familie zu liegen. Außerdem: Meine Frau und ich waren uns sicher, dass ihm die Bücher lieber waren als Menschen. Es gibt nun mal sach- und personenorientierte Lebensentwürfe. Sein Entwurf war absolut buchorientiert. Der ist Bibliothekar geworden, um sich seine Berufung zum Beruf zu machen. Bis vor einigen Jahren haben wir ungefähr einmal im Monat telefoniert, aber das hat sich dann auch gegeben. Damals hat er sich ein neues Projekt zugelegt, das seine ganze Freizeit fraß. Er nannte es ›meine große Recherche‹ – und mit der war er Tag und Nacht beschäftigt. Ich nehme an, es hatte was mit Archäologie zu tun, denn einmal hat er stolz gesagt, dass nach seinen Erkenntnissen die Geschichte des Vilstals umgeschrieben werden müsse. Also wirklich, wen interessiert denn so was! Da sehen Sie mal, wie weltfremd und verrückt der war. Meine Frau wollte lieber handfeste Paten für unsere Kinder. Nicht so g’spinnerte Leute. Echte Vorbilder halt.« Er seufzte und sah auf seine Armbanduhr.
»Sie wussten also gar nicht, dass er verlobt war?«
»Nein, ich dachte, der interessiert sich nur für Bücher.«
»Ihr Bruder hat sich für Bücher und Genealogie interessiert.« Sie reichte ihm eine der Visitenkarten, die bei Günther Hellmann auf dem Schreibtisch gelegen hatten. »Das war seine Forschung. Erbenermittlung und Stammbaumrecherche.«
Edwin Hellmann wippte ungeduldig mit dem Fuß. »Also gut, und warum genau sind Sie hier? Was kann ich für Sie tun? Ich muss noch mal zurück ins Büro. Wir haben eine Abendsitzung. Verstehen Sie, mein Bruder und ich waren uns fremd. Wir sind nicht aus dem gleichen Holz geschnitzt, wie man so schön sagt.«
»Gut, dann machen wir es kurz. Wir haben heute einen Raum in der Wohnung Ihres Bruders versiegelt. Sie können da erst rein, wenn ich Ihnen Bescheid gebe.«
Er sah sie fragend an. »Was hab ich denn damit zu tun?«
»Sie sind der rechtmäßige Erbe.«
Gereizt winkte er ab. »Ach, bei dem ist doch eh nichts zu holen. Nichts als Bücher und alte Handschriften, vermutlich nicht mal ordentliche Möbel. Verstehen Sie, ich wäre heilfroh, wenn Sie mich aus dem Ganzen raushalten könnten, ich hab grad so viel Stress, da brauche ich nicht auch noch das Vermächtnis meines Bruders. Ehrlich nicht.«
»Okay, dann kriegen Sie Bescheid, sobald die Wohnung frei wird.«
»Lassen Sie sich ruhig Zeit.« Er stand auf und ging Richtung Tür.
Sie folgte ihm.
»Da wäre noch der Wagen Ihres
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