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Sense

Sense

Titel: Sense Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Juretzka
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auf dem Röntgenbild und nannte sie alle beim Namen, doch ich habe sie gleich wieder vergessen, es waren so viele. >Polytrauma< lautete der Befund.
    Ja, dachte ich und tuckerte suchend die Düsseldorfer Straße hinunter, das hätte ich selber kaum besser formulieren können. Es würde Wochen, möglicherweise Monate, dauern, bis ich die Hand wieder gebrauchen könnte.
    Dumpfe Wut schnürte mir die Eingeweide zu einem handlichen Bündel. Einen bewusstlosen Mann wegen eines umgeschmissenen Tisches und 'ner Macke am Kopf zu verkrüppeln, das war niederträchtig, das war heimtückisch, das war ungerecht. Und bei Ungerechtigkeiten reagiere ich empfindlich. So was konzentriert mein Denken. Auf eine starre Weise.
    Vorsichtig, sorgsam jedes Schlagloch umschiffend, steuerte ich den Crown durch die Nacht und grübelte mit intensivem Hass darüber nach, wie ich mich allein und obendrein einhändig an dem Mann rächen sollte, der mir das angetan hatte und den Scuzzi etwas illustrativ als >eine vielarmige Krake von einer Drecksau von einem Gangster< bezeichnet hatte. Das >vielarmig< missfiel mir dabei aus verständlichen Gründen am meisten.
    Der Waschzettel warnte vermutlich vor der Einnahme zusammen mit Alkohol. Ich hatte ihn nicht gelesen, doch das schreiben sie immer. Das rät ihnen die Rechtsabteilung.
    Andererseits ist ein Bier noch kein Alkohol. Und bevor es zu Nebenwirkungen kam, sollten die Pillen der Fairness halber erst mal irgendeine Form von Wirkung zeigen, und das taten die vier, die ich gerade zerkaut und trocken heruntergewürgt hatte, bisher nicht. Vielleicht musste ihnen ja nur ein bisschen auf die Sprünge geholfen werden. Mit einem Bier zum Beispiel.
    Ich passierte die Ibing-Brauerei, und keine fünfhundert Meter weiter verlangsamte der Crown seine Fahrt, trieb gegen den Bordstein und kam reifenscheuernd und wie von Geisterhand ganz von alleine zum Stehen.
    >Bootsverleih< lockte ein von unsicherer Hand gemaltes Schild und wies eine Rampe hinab.
    Es war mittlerweile fast zwei, doch Hasso Kottge besitzt keine Schankkonzession, fühlt sich somit an keine Sperrstunde gebunden und schließt deshalb eigentlich nie, bevor sich nicht auch der letzte seiner Gäste endgültig und unwiederbringlich von den Beinen gerissen hat.
    Was dauern kann. Sie sind ein zäher Haufen, Hassos Gäste, Theken-Olympioniken jeder einzelne, und zwar, anders als diese einseitig hochgedopten Luschen im Fernsehn, alle in sämtlichen Disziplinen: Wer verpackt am meisten, wer kann am längsten, wer ist der Stärkste, wer hat den Größten, wer die meiste Ahnung, wer die kriminellste Vergangenheit, wer die gewalttätigste Verwandtschaft, wer schafft es, die meisten Runden zu ergaunern, wer kennt die wildesten Gerüchte über gerade Abwesende, wer hat wen am öftesten beklaut/belogen/betrogen/bei der Polizei angeschissen, wer ist mit der fürchterlichsten Xanthippe verheiratet.
    Um nur ein paar zu nennen. Denn ähnlich wie beim echten Olympia kamen fast täglich neue Disziplinen hinzu. >Wer kennt einen, der einen kennt, der einen Schwager hat, der Tür an Tür mit einem wohnt, der ganz genau jeden Einzelnen bei der Stadtverwaltung mit Namen nennen kann, der für den neuen Tunnel unter der Ruhr durch die Hand aufgehalten hat<, ist die Neueste, soviel ich weiß.
    Selbst kein Partizipant, haben ihre ewigen Debatten in mir nichtsdestotrotz einen Fan, einen begeisterten Zuhörer, sind sie für mich doch in vieler Hinsicht wie Musik. Kaum dass die erste, frühabendliche und für gewöhnlich etwas wackelige Phase des Einstimmens vorbei ist, entwickelt sich zumeist ein beständiger Strom von Lauten, an- und abschwellend in Tempo und Volumen, vorgetragen mit rauen, versoffenen Stimmen, immer im Brustton der Überzeugung und angespornt von der vorherrschenden Auffassung, dass, wer laut ist, Recht hat und somit, wer lauter, rechter, unterlegt mit einem Teppich aus vielstimmigem Gebrabbel, der wiederum durchwoben ist mit wechselnden und sich wiederholenden Themen, aus denen dann überraschende Soli in die Höhe wachsen, dramatische Höhepunkte und hin-und herwogende Tumulte, die gar nicht selten so lange wogen, bis Mobiliar kracht und Glas klirrt, und die manchmal nicht eher abflauen wollen, bevor nicht Hasso - Hasso mit den grausam über Kreuz gehenden Augen, Hasso mit dem Hang zum Schaum vor dem Mund, Hasso mit dem Tremor eines fiebernden Mandolinisten - den Sechsschüsser aus seinem Versteck gekramt und ein, zwei viel beachtete Kugeln mehr oder weniger

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