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Sense

Sense

Titel: Sense Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Juretzka
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über die Köpfe der Anwesenden hinweg gefeuert hat, stets gefolgt von einer kurzen Spanne völliger Stille. Bevor es, unter Räuspern und Hüsteln, von vorne losgeht.
    Jetzt, kurz vor zwei am Morgen, waren sie noch prätumultig, doch ansonsten wundervoll in Fahrt und schallten mir schon von Weitem entgegen.
    Ein Bier, dachte ich und tappte die dunkle, ungepflasterte Auffahrt hinunter, ein Bier, mehr nicht.
    Hassos Holzbaracke sitzt gemütlich zu Füßen einer Ansammlung windschiefer, heruntergekommener Mietshäuser voller Sozialfälle, angelehnt an ebenso vernachlässigte Gewerbebauten, in denen kleine Firmen mit häufig wechselnden Namen ihren Geschäften nachgehen und vergessene Lagerbestände für immer vor sich hin modern. Und all das auf einem der vielleicht begehrenswertesten Grundstücke der Stadt, direkt am Ruhrufer, mit einem unverbaubaren Blick auf die Skyline unseres hübschen, wenn auch verschnarchten Provinznestes. Jedes Mal, wenn ich herkam, war ich wieder aufs Neue erstaunt, immer noch keine ordentlich in Waage planierte Baugrube vorzufinden, aus der sehr rasch ein adrett gezeichneter Klotz voll Eigentumswohnungen für die zahlreichen Besserverdienenden unseres Gemeinwesens hochgezogen werden würde. Lange konnte es, gefühlsmäßig, nicht mehr dauern.
    Ich klingelte an Hassos Durchreiche. Der Regen hatte nachgelassen, und ein paar Sterne funkelten aus der Tiefe des Raumes. Mir war danach, ihnen dabei zuzusehen. Außerdem konnte man sich drinnen nicht denken hören. Und ich hatte zu denken. Zu brüten. Zähneknirschende Pläne zu schmieden.
    Jeder, auch der kälteste Zyniker, hat irgendetwas, woran sein Herz hängt. Irgendetwas, mit dem er sich sentimental verbunden fühlt, oder dessen Besitz ihn mit kindischem Stolz erfüllt. Jeder hat so eine Kostbarkeit, deren Verlust er fürchtet und als schmerzhaft empfinden müsste. Ich fragte mich, was ich Siegfried >Elvis< König nehmen könnte, das den Schmerz einer auf Monate ruinierten Hand aufzuwiegen in der Lage wäre.
    Ein paar Sachen kann man unmöglich auf sich sitzen lassen. Unmöglich. Selbst wenn sich >einhändig< gegen >vielarmig< schwer nach David gegen Goliath anhört. Man darf dabei nie vergessen, wer es war, der im Endeffekt gewonnen hat.
    Ich klingelte noch mal. Das zaghafte Gebimmel tat sich schwer gegen das unablässige Geschrei. Walter hatte, wenn ich recht hörte, im Moment am rechtesten. Walter mit dem Gesicht in der Farbe von Blutwurst und der Stimme wie wenn Sand in den Schraubverschluss geraten ist, und er war mal wieder aufs Heftigste engagiert in einer umnachteten Debatte mit dem beinamputierten >Disco< -Willy (früher Chicago-Willy, Stimme wie ein Bulle, der mit den Eiern am Elektrozaun festhängt) und dem Langen Hans, der an seinem Quengelfalsett zu erkennen war. »Wie, >WattWatt< hasse beide Lampe oder beide Waschmaschine oder von mir aus sogah beide Straßenbahn, die fährt schließlich au' mit Strom, abber doch nich bein Auto!«
    Ich war, wie es schien, mitten in den Bewerb >Die meiste Ahnung< geraten, dem Zehnkampf unter den hier praktizierten Disziplinen.
    - Autos sind, so gesehen, immer dankbare Ziele. Vielleicht -das wäre leicht herauszufinden -, vielleicht besaß >Elvis< ja irgendetwas Seltenes, einen Oldtimer etwa, sündhaft teuer und mehr oder weniger unersetzlich. Ein tausendmal polierter und aber auch jedem Besucher vorgeführter alter Nobelschlitten, einer von nur noch zehn Stück weltweit. Könnte eine prachtvolle Rauchsäule abgeben.
    Hasso zog die Durchreiche auf, Kopf wie immer fast auf der Schulter, Unterkiefer stramm in die andere Richtung zeigend, Augen sowieso.
    »Nee, unn auch kein Killowatt«, tönte Walter hinter ihm. »Datt is dattselbe wie Watt, nur ... nur ... schwerer, ehmt.«
    »Wa-wa-wasch willschu?«, fragte Hasso mit seinem charakteristischen, von heftigem Stottern zerhackten Nuscheln. Ich bestellte ein Pils. Er schlurfte zum Kühlschrank.
    Es blieb ein Rätsel, wie er damit durchkam. Ich meine, jeder konnte sehen, dass dies hier kein Bootsverleih war. Dazu fehlte es ganz einfach an der, wie soll ich sagen, Hardware. Obwohl, gerade Sommersonntag nachmittags verirrte sich immer mal wieder jemand Hoffnungsfrohes hierher und fragte tatsächlich nach einem Boot. Das löste dann regelmäßig ein derart schlagartiges Schweigen und eine solche Menge intensiv

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