Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sensenmann

Sensenmann

Titel: Sensenmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clausia Puhlfürst
Vom Netzwerk:
Mittelfingers.
    Rainer Grünkern schrie zuerst wie ein angefahrenes Tier, dann spuckte und gurgelte er. Speichel flog durch die Luft und rann in Form schaumiger Fäden von der Unterlippe zum Kinn. Es war ein widerlicher Anblick. Endlos scheinende Minuten vergingen, bis der Mann sich wieder beruhigt hatte. »Das hat ganz schön weh getan, nicht? Mir scheint, du kannst eigenen Schmerz schlecht ertragen. Aber vielleicht hilft dir das, dir die Qualen deiner Opfer besser vorstellen zu können.«
    Matthias betrachtete die Hand. Die Rouladennadel verlängerte den Mittelfinger auf bizarre Weise. Von oben war der dünne Metallstreifen als dunkle Linie im Nagelbett zu sehen, die von zwei roten Streifen flankiert wurde. »Nachdem du dich nun beruhigt hast, frage ich noch einmal: Wer war außer dir noch an den Misshandlungen beteiligt?«
    »Meller!« Rainer Grünkern spuckte den Namen hervor und versprühte dabei ein bisschen Speichel.
    »Siegfried Meller, das wusste ich zwar schon«, ein Bild des Fischgesichtes mit den Glubschaugen loderte in Matthias’ Kopf auf, »aber gut, dass du mir die Wahrheit sagst. Wer aber hat außer dir noch Kinder missbraucht?«
    »Niemand.«

    »Wirklich niemand?« Ein Griff zur Öse der Nadel, ein sanftes Rütteln und der ehemalige Heimleiter jaulte auf wie eine Sirene im Nebel. Warum schützte der Mann seine Mittäter? Oder hatte jeder der Erzieher im Verborgenen gehandelt, ohne dass die anderen es mitbekommen hatten? Matthias dachte darüber nach. In jeder seiner Erinnerungen agierte nur einer von ihnen. Es war also möglich, dass einer vom anderen nichts gewusst hatte. Allerdings zeigte sein Gedächtnis keine vollständigen Filme, nur Ausschnitte, einige Zeitlupenaufnahmen und Standbilder. Das Ganze hatte über viele Jahre hinweg angedauert, es hatte zahlreiche Opfer und etliche Täter gegeben, was die Tatsache mehrerer Einzeltäter sehr unwahrscheinlich machte. »Also?«
    »Hel … Vogl.«
    »Wie bitte?« Er berührte die Öse, und Rainer Grünkern beeilte sich, den Namen zu wiederholen. »Helmut Vogel.«
    Auf Matthias’ Stirn erschienen zwei senkrechte Falten zwischen den Augenbrauen. Der Name kam ihm fremd vor. Er fand kein Bild dazu. »Wie sah der aus?«
    Unterbrochen von permanentem Schniefen stammelte der ehemalige Heimleiter die Beschreibung hervor. »Nicht sehr groß, stämmig. Dunkle Haare.«
    »Irgendwelche besonderen Merkmale?«
    »Nein.«
    »Von wann bis wann war der im Heim?«
    »Genau weiß ich es nicht mehr.«
    »Dann ungefähr, Blödmann! Lass dir nicht alles aus der Nase ziehen! Was glaubst du, welche Alternativen du hast?« Die Nadel ließ sich nur schwer weiterschieben. Grünkern heulte jetzt und wimmerte dabei. Wahrscheinlich war ihm eben klar geworden, dass dies hier schlecht für ihn enden würde. Dünner Schleim floss aus seinen Nasenlöchern in Richtung Mund.
    Matthias hatte für einen Moment Mitleid mit dem alten Mann. Was tat er hier eigentlich? War das, was er hier machte, nicht genau
das Gleiche, was die Heimerzieher damals mit den Kindern getan hatten? Ein Blick zu den Computerbildschirmen brachte ihn zur Besinnung. Es gab einen entscheidenden Unterschied  – die anderen hatten willkürlich die Schwächsten ausgewählt, kleine Kinder, die sich nicht wehren konnten, und diese grundlos gequält, gedemütigt und missbraucht. Er bestrafte Leute, die sich bereits etwas hatten zuschulden kommen lassen  – Täter.
    Vertraulich blinkerten die Leuchtdioden vom Schreibtisch herüber. Matthias sah auf die Digitaluhr. 14:25 Uhr. Eben war es noch kurz vor elf gewesen, und schon waren über drei Stunden vergangen. Die Zeit verstrich wie im Flug. Grünkern lag als verschnürtes Bündel mit einem anklagend ausgestreckten Arm vor ihm. Er hatte die Augen geschlossen, als wolle er die Gegenwart ausblenden. Aber das würde ihm nichts nützen. Vom Mittelfinger lief ein dünner Blutfaden über das Holzbrett und sickerte in den Teppich. Das Neonlicht in dem Raum veränderte die Farben. Das Blut schillerte violett-schwärzlich, und Rainer Grünkerns Haut hatte eine grünlich graue Tönung.
    Matthias merkte sich vor, nachdem er mit dem Häufchen Unglück hier fertig war, die Festplatte in Bezug auf ehemalige Kollegen von Rainer Grünkern zu durchsuchen. Vielleicht sagte das Würstchen trotz der Schmerzen nicht alles. Aber einen Versuch war es noch wert. Der Mann hatte ja nicht nur diesen einen Finger.
    Matthias betrachtete nachdenklich seine bereitgelegten Utensilien und erstarrte.

Weitere Kostenlose Bücher