Sensenmann
betrachtete das entspannte Gesicht der Patientin und wartete auf die charakteristischen Bewegungen der Augäpfel, aber nichts geschah. Weder antwortete sie auf seine Frage nach dem Wärmegefühl in Armen und Beinen, noch gab sie sonst irgendwelche Zeichen. Stattdessen öffnete sich ihr Mund, und sie begann, leise gurgelnd zu schnarchen. Mark Grünthal beugte sich nach vorn und versuchte noch einmal, zu ihr durchzudringen, Zugang zu ihrem Unterbewusstsein zu bekommen, hatte aber keinen Erfolg.
Mia Sandmann war eingeschlafen.
38
»Sonnabend, der achte August, vierzehn Uhr fünfzehn. Ich spreche mit Frau Herta Ehrsam und Frau Leonie Stengel.« Lara blickte bei der Nennung der Namen von einer zur anderen, und die beiden Alten nickten. Sie schienen fasziniert von dem Diktiergerät, das die Journalistin sich vor den Mund hielt. Lara verkniff sich ein Lächeln, drückte auf den Stopp-Knopf und fuhr fort. »Meine Damen, falls ich Sie zitiere, brauche ich die exakten Namen. Sie sind damit einverstanden, dass ich das, was Sie mir erzählen, auch veröffentlichen darf?«
Die beiden Frauen nickten, und Lara legte ihnen ein vorbereitetes Blatt auf den Tisch. »Dann unterschreiben Sie mir bitte hier.«
»Das ist spannend, nicht, Leonie?« Herta Ehrsam schob die Brille nach oben und kritzelte dann ihre Unterschrift auf das Papier. Ihre Freundin zog das Blatt zu sich herüber und unterschrieb ebenfalls. Struppi, der kleine zottige Terrierverschnitt, saß mit aufgerichteten Ohren neben seinem Frauchen und schien zuzuhören.
»Danke. Ich schalte gleich das Diktiergerät wieder an, und dann kann es losgehen.« Lara betrachtete den Berg Haferkekse und das Geschirr mit dem Goldrand. »Oder vielleicht trinken wir zuerst Kaffee und reden danach über den Fall. Mit vollem Mund erzählt es sich so schlecht.«
Man konnte sehen, dass die beiden Alten darauf brannten, ausgefragt zu werden, aber sie rissen sich zusammen. Nachdem jede von ihnen eine Anstandstasse Kaffee und ein paar Kekse zu sich genommen hatte und auch Frau Ehrsams Hund nicht zu kurz gekommen war, lehnte sich Leonie Stengel zurück und seufzte wohlig. Ihre Augen funkelten. Sie wusste, dass sie hier die
Hauptperson war, denn was hatte ihre Freundin schon zu erzählen – schließlich war nicht sie die Nachbarin eines ermordeten Mannes.
»Gut, Frau Stengel. Los geht’s.« Lara schaltete ihr Diktiergerät ein. »Rainer Grünkern hat also in Ihrem Haus gewohnt.«
»Ja. Ganz oben. Ich wohne im zweiten Stock.«
»Kannten Sie ihn näher?«
»Na ja, ein bisschen. Wie man sich so kennt, wenn man viele Jahre im gleichen Haus lebt. Er ist … war … ein unauffälliger Mann. Sehr sportlich. Jeden Tag war er radfahren oder spazieren. Wirklich jeden Tag, auch im Winter! Und er hat immer freundlich gegrüßt.«
»Rainer Grünkern war Rentner, nicht?« Lara kannte die Antwort, aber es schadete nichts, wenn die alte Dame das Gefühl hatte, ihre Fragen beantworten zu können.
»Schon ein paar Jährchen. Genau wie wir beiden alten Truden.« Leonie Stengel stupste ihre Freundin am Arm, und der Hund ließ einen kurzen Kläffer los. »Der muss so um die siebzig gewesen sein, auch wenn er jünger ausgesehen hat.«
»Wissen Sie, wo er vor seinem Ruhestand gearbeitet hat?«
»Der war in der Schraubenbude – also, wir haben das immer so genannt. Diese Metallteilefirma in der Halleschen Straße. Davor soll er Lehrer oder so etwas in der Art gewesen sein, aber nicht hier. Irgendwo bei Zwickau. Das weiß ich aber nicht genau. Hab’s bloß mal irgendwo gehört. Wahrscheinlich war er bei der Stasi, und sie haben ihn nach der Wende aus der Volksbildung rausgeschmissen. Da ist er dann in diese Schraubenbude gegangen.« Herta Ehrsam pflichtete ihrer Freundin durch heftiges Nicken bei.
»Verstehe. Zuerst vermutlich Lehrer bei Zwickau und dann ›Schraubenbude‹.« Lara lächelte der Alten aufmunternd zu.
»Hatte Herr Grünkern Angehörige?«
»Gelebt hat er jedenfalls allein. Ich kann mich nicht erinnern,
dass er verheiratet war. Jedenfalls nicht, solange er bei uns in der Ringstraße gewohnt hat.«
»Wissen Sie, ob er Kinder hatte?«
»Nein.« Leonie Stengel zog die Nase hoch. »Also ich meine, ich weiß es nicht. Aber ich glaube eher, er hatte keine. Sonst hätten sie ihn doch mal besucht, nicht wahr?«
»Das ist anzunehmen. Kamen denn andere Verwandte von Herrn Grünkern zu Besuch? Oder Freunde und Bekannte?«
»Auch nicht. Eigentlich hat er sehr zurückgezogen
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