Sentry - Die Jack Schilt Saga: Die Abenteuer des Jack Schilt (German Edition)
längerem Kauen zuckersüße Hirschmöhre, die im offenen Feuer geröstet sogar noch besser schmeckte. Ein weiteres Mal zauberte Luke grüne, faustgroße Knollen hervor, die er wer weiß wo dem Erdboden entrissen hatte und Brotsamen nannte.
„Woher kennst du all dieses merkwürdige Zeug?“ fragte ich ihn beim Verspeisen meiner Ration bitter schmeckenden Brotsamens. Die gestrigen Hirschmöhren wären mir lieber gewesen. Oder jene Erdbirnen, die so sehr an Kartoffeln erinnerten. Wir nahmen uns zum ersten Mal seit Tagen etwas mehr Zeit für den mittäglichen Aufenthalt. Ein weiser Entschluss. Das Tempo der vorangegangenen Tage ließ sich beim besten Willen nicht weiter einhalten.
„Mein Vater lehrte mich früh, die Geschenke der Natur zu erkennen“, antwortete Luke nach kurzem Zögern. „Dafür bin ich ihm noch heute dankbar.“
Zum ersten Mal sprach Luke über seinen Vater. Da ich mir nicht sicher war, darauf gefahrlos eingehen zu dürfen, nickte ich nur knapp. Meine Augen nahmen dafür eine plötzliche Bewegung in Lukes Gepäck wahr, ein willkommener Anlass, das Thema zu wechseln.
„Entweder entwickelt dein Rucksack gerade ein erstaunliches Eigenleben oder du hast uns einen Teil des Mittagessens unterschlagen.“
Lukes Blick folgte umgehend meinem ausgestreckten Zeigefinger. In diesem Moment lugte auch schon ein fellbesetztes Köpfchen vorwitzig heraus.
„Du hast einen Fego gefunden?“ fragte ich, meine Überraschung wenig unterdrückend.
„Nicht gefunden“, verbesserte mich Luke.
Zunächst verstand ich nicht genau, was er damit sagen wollte, doch als das Tierchen freudig schnatternd aus dem Rucksack direkt in Lukes dargebotene Handfläche hüpfte, wurden mir die Zusammenhänge klarer.
Fegos gehörten zu den wenigen Nagetieren Gondwanalands, die sich als Haustiere eignen – und sie erfreuen sich bei Kindern großer Beliebtheit. Mich erinnern sie stets an zu groß geratene Ratten, weswegen ich ihnen noch nie sehr viel abgewinnen konnte. Als kleiner Junge besaß ich eine getigerte Katze, die dummerweise Fegos zum Fressen gern hatte. Diese Tatsache machte Tapps verständlicherweise in der Nachbarschaft äußerst unbeliebt, zumal er sich das Herumstreunen nie abgewöhnen ließ. Irgendwann im Spätherbst kehrte Tapps nicht mehr heim. Nach der Schneeschmelze im darauffolgenden Frühling fand Rob am Waldrand unweit unseres Hauses die verwesenden Reste einer von mehreren Pfeilen durchbohrten Katze. Bis heute bin ich überzeugt, dass es sich bei dem Kadaver um Tapps handelte, der der unseligen Koalition fegoliebender Nachbarsjungen zum Opfer gefallen war. Von diesem Tag an wollte ich Fegos nicht mehr leiden.
„Du schleppst das Vieh mit dir herum?“ schaltete sich Krister ein. „Ich kann es nicht glauben!“
„Was sollte ich denn sonst mit Teddy tun?“ wehrte sich Luke schwach. „Ihn zuhause verhungern lassen?“
Teddy...!
Luke sank in meinem Ansehen wieder auf die Stufe eines Kindes herab. Ich wollte ebenso wenig wie Krister verstehen, warum ein so gut wie erwachsener Mann ein ganz und gar unnützes Tier mit sich herumschleppte.
„Die paar Tage hättest du ihn ja den Svenssons geben können. Die haben doch selber einen Haufen Fegos, soviel ich weiß.“
Einen Moment sah es so aus, als begänne Luke sich auch noch wie ein Kind zu verteidigen. Doch er unterließ es und beschränkte sich darauf, das dunkelgraue Fell des vor Wonne grunzenden Nagers zärtlich zu streicheln.
„Teddy ist zu sehr an mich gewöhnt“, sagte er nur leise.
Ich gab es ungern zu, aber es schien zu stimmen. Als Wiedergutmachung für meine anfängliche Abneigung streckte ich eine Hand aus, um Teddy ein paar freundschaftliche Streicheleinheiten zukommen zu lassen. Meines Wissens ließen sich Fegos von allem anfassen und streicheln, egal wer oder was da des Weges kam. Wahrscheinlich waren sie sogar vor Tapps in die Duldungsstarre verfallen. Nicht so Teddy. Laut protestierend hopste das fiepende Fellbündel zurück in den Rucksack und kam nicht wieder hervor.
„Tja“, grinste Luke verschmitzt. „Wie du siehst haben auch Fegos einen gewissen Anspruch.“
Nach fünf beschwerlichen Tagesreisen durch die menschenleere Wildnis Ergelads erreichten wir ihn endlich, den sagenumwobenen Skelettfluss, das Ende der uns bekannten und gestatteten Welt. Demütig standen wir an seinem Ufer und blickten hinaus auf den breiten, tiefblauen Strom. Auf der anderen Seite, etwa hundert Meter entfernt, begann Laurussia. Es war also soweit.
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