Sepia
gründlichen Vollzug des Götterauftrags. Er lässt von Anfang an römische Götter walten. Athene wird Minerva. Die Schlangen erwürgen alle,den Vater und beide Söhne. Kein Lebenszeichen mehr. Damit hatte diese Geschichte ein klares Ende und die neue Epoche einen sauberen Anfang.
In den Jahren vor der Zeitenwende steht vor drei Bildhauern von der felsigen Insel Rhodos eine nämliche Vision. Aus acht Marmorblöcken wollen sie das gewaltsame Ende des Laokoon in einer Skulpturengruppe zum Vorschein bringen. Der achtsame Priester soll sterben und mit ihm seine unschuldigen Söhne. Schlangen sind, wie überliefert, die Mordwerkzeuge. Das zarte kleinere Kind stirbt zuerst, im Tode erfährt es, dass niemand auf dieser Welt es retten wird, es sinkt hilflos aus der unvollkommenen Obhut des irdischen Vaters.
Eines Mannes, der besinnungslos ist vor Schmerz, niedergemacht, gewürgt und gefesselt. An der Schwelle zwischen Leben und Tod.
Keine Rettung, nirgends und für niemanden.
Da greift der Sterbende in letzter Geistesgegenwart mit der freien Hand nach dem züngelnden Tier. Das ist die entscheidende Sekunde. Statt nach Vorsehung der Götter den zweiten Sohn zu töten, beißt die Schlange in die Hüfte des schon in sich selbst versinkenden Vaters. Durch diese von Überlebens- und Liebeskräften diktierte Geste wird der Jüngling verschont. Ein Himmelszeichen, ein früher Stern, der nach Bethlehem führt?
Frau Felber in der Bibliothek liest das Trojakapitel, sie vertieft sich in die Skizze von Erika und in das Foto im ersten Band Kunstgeschichte von Hamann, die gängige Version des Laokoon. Am Ende wiegt sie den Kopf, sie zieht die Augenbrauen ziemlich hoch.
Das ist meine Meinung, sagt Eli. Die Geste des Vaters ist doch deutlich genug, man sieht doch, dass die Schlange irritiert ist.
Frau Felber betrachtet wieder das Foto, es ist gut gedruckt, aber leider ziemlich klein.
Eine irritierte Schlange, das kann ich nicht sehen.
Auf dem Foto nicht, aber auf der Skizze von Erika.
Eli bedankt sich für Kaffee, die Kekse und das Gespräch. Das Sorgenbündel unter dem Arm, so macht sie sich auf den Weg vom Stalin-Haus in die Dachbude, an die Bodenkammertür, den geliebten Notschreibtisch, wo die anderen Kapitel liegen und ein Brief an Erika.
Notiz:
Bleibt am Ende noch die Frage, was aus dem Knaben geworden ist. Was wird aus Überlebenden? Wurde Laokoon junior Sklave der Griechen? Ging er im Tross von Äneas auf die lange Reise? Wurde er am Ufer des Tyrrhenischen Meeres Spezialist für Sonnenuhren? Ein Davongekommener, vaterlos, bruderlos, glücklos? Einer, der die Gefahr nicht gebannt, den Mord nicht gehindert hatte. Ein Schwindler. Davongekommene sind nur scheinbar brauchbare Zeitzeugen.
Der fünfte apokalyptische Reiter heißt: Schuld.
Siegfried Müller tippt. Eli diktiert. Nach jedem dritten Satz hat Siegfried Müller eine Frage. Das ist typisch. Nichts will er durchgehen lassen. Den Wechsel zwischen griechischen und römischen Götternamen. Eli, du musst die Perspektive beachten. Und die Spekulationen vermeiden.
Eli legt das Deckblatt, die Durchschläge, dazwischen das Kohlepapier, Seiten, die Siegfried in die Walze seiner Maschine einspannt, es ist eine schwarze hochglänzende Optima. Weil Siegfried sich nicht vertippen möchte, will er lieber aus Elis Heft abschreiben, dein Diktat verwirrt mich. Weil er schon wieder einen Fehler gemacht hat, weil er ins Schwitzen gekommen ist, zieht er seinen hellblauen Westover aus. Er blättert in den nächsten Seiten, nicht nur der Inhalt, auch die Form irritiert ihn.
Siegfried nimmt das Heft hoch, er liest. Soll das deine Schrift sein? Schräg, höchst schräg. Das sind doch Ludwigs Buchstaben. Wirklich, das sieht aus wie von Ludwigs Hand.
Unser schräger Ludwig schleicht durchs Gelände. Er geistert. Wenn nicht persönlich, so doch als grüne Schrift. Ludwig liefert von auswärts seine Gedanken an Eli. Aber das weiß Siegfried am besten, das ist unmöglich, dafür gibt es feste Grenzen, die Grenzorgane und genügend Kontrollinstanzen. Die Brieftaubenvereine sind verboten. Wie die Segelflieger und Taucher.
Ist dir das noch nicht aufgefallen, Eli. Du hast Ludwigs Schrift angenommen. Komisch wäre es, wenn Ludwig jetzt schreiben würde wie du.
Das wäre echt komisch, sagt Eli.
Weiter im Text. Die Geistesgegenwart des Laokoon. Siegfried liest, seine Stirn wird zum Waschbrett. Die Gegenwart des Geistes im Augenblick des Todes.
Das geht aber jetzt zu weit,
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