Sepia
Eli.
Siegfried hat sich stets um Arbeiterkind Eli gekümmert, jedes Sommer- und Winterhalbjahr hat er sich Sorgen gemacht, weil die Leistungskurve nicht kontinuierlich nach oben gehen wollte. Eli, du fällst, du schwankst schon wieder. Eli, ich bitte dich, bleibe bei gesicherten Erkenntnissen. Du darfst das Ende jetzt nicht vergeigen. Schon wieder so eine Stelle, du schreibst: Zufällig gefunden beim Latrinenbau. Das tippe ich bestimmt nicht, das ist total aus der Luft gegriffen.
Also gut, an der Stelle bleibe ich ganz allgemein bei Bauarbeiten im Gelände. Aber jetzt sind wir erst mal bei der Geistesgegenwart im Tode, wo sich Prinzip Hoffnung und himmlische Erlösung berühren.
Das meinst du, sagt Siegfried. Du allein und sonst niemand. Eli pocht auf ihren Beweis.
Sieh dir die Skizze von Erika doch mal genau an. Kneife bitte die Augen zu. Wir sind zwar nicht in den Vatikanischen Museenwie Goethe, wir haben nur die Skizze vor unserem Blinzelblick, und Fackelbeleuchtung haben wir auch nicht. Trotzdem. Augen fest zu, Augen auf. Kapierst du, der Junge ist fort. Er hat die Biester vom Knöchel gestreift, den Arm weggezogen, den dicken Schlangenwulst vom Oberschenkel geschleudert, er hat das Geschlinge hinter sich gelassen. Lauf, was du kannst. Renne. Er ist fort.
Eli, du spinnst, du musst bei den Tatsachen bleiben, du darfst nicht spekulieren.
Tatsache ist, ich muss nach Rom.
Jeder muss nach Rom, sagt Siegfried Müller, und Siegfried Müller erklärt, warum das nicht geht. Es hat mit der Währungsreform angefangen, eigentlich mit den Nazis. Sogar schon mit der Weltwirtschaftskrise, die Wurzeln stecken im Ersten Weltkrieg, in der Revolution und dem Rubel, mit Rubel kannst du nicht nach Rom, der Rubel ist nicht konvertierbar. Der Rubel war schwach, er ist schwach und wird immer schwach bleiben, darüber können wir lange reden, aber es hat keinen Zweck. Du würdest die Welt durcheinanderbringen. Denke nach, hast du es wirklich so schwer?
Ich platze gleich vor Wut und Sehnsucht.
Eli nimmt einen Kaffeebecher aus dem Regal. Sie geht in die Küche. Ein paar Bohnen sind immer noch im Sack. Rösten und mahlen.
Eli kocht Kaffee. Für Siegfried, denn sie wird ihn jetzt ablösen an der Schreibmaschine. Sie knipst die Lampen an. Die Deckenkugel, die Tischlampe, die Arbeitslampe. Hell erleuchtet die Szene. Etwas frische Luft aus dem offenen Dachfenster tut gut.
Siegfried hat den Westover noch nicht wieder angezogen, er trinkt den Kaffee genießerisch und recht langsam, er sitzt auf dem Tagsofa, also eigentlich auf dem Bett, er behält den Kaffeetopf gemütlich in den Händen. Er pfeift leise, fast einbisschen verträumt, während Eli tippt. Sie hat vorgearbeitet, die geschichteten Seiten, Kohlepapier, rosa, blaues und gelbes Durchschlagpapier liegen kreuzweise neben der Maschine. Sie spannt eine glattgeklopfte Lage ein. Eigentlich könnte Siegfried die Maschine hierlassen, er sieht ja, wie sie vorankommt, eigentlich könnte er jetzt nach Hause fahren.
Deine Frau wartet vielleicht schon auf dich.
Das kann sein, sagt er.
Siegfried, ich beneide dich.
Mich? Warum?
Ich sage dir erst einmal, worum ich dich eigentlich nicht beneide. Nämlich, dass du immer der Beste bist und unser Seminarsekretär und um deinen festen Klassenstandpunkt, denn dafür musst du stets konzentriert geradeaus denken und hart arbeiten, Sitzungen und Schulkonferenzen besuchen, darum beneide ich dich nicht. Ich beneide dich um deine Frau. Wie du so was erwischt hast, auf Anhieb gleich die Richtige.
Siegfried schaut aus seinen blauen Augen. Er hat es noch nicht gewusst und in der vorigen Minute am wenigsten, aber jetzt weiß er genau, dass Eli eine gute Wahrheit gesagt hat.
Das stimmt, Eli, ich habe Glück. Er versteckt seine Rührung, indem er die Taschenuhr hervorzieht. Er kriecht in seinen hellblauen Westover. Er schaut Eli zum Abschied in die Augen wie im Film
Casablanca
, ziemlich traurig vor so viel Wahrheit. Die Maschine hole ich in ein, zwei Wochen bei dir ab, oder du stationierst sie im Stalin-Haus bei Frau Felber in der Bibliothek, oder du stellst die Maschine hinter den Heinrich-Heine-Kopf. Versteck sie hinter dem Sockel. Dann eilt Siegfried zum Bus.
Liebe Eli, ich bitte meine Eilschrift auf den vielen beigelegten Zetteln zu entschuldigen. Ein Glück, dass ich dem Hinweis des arroganten Affen in der Bibliothek noch gefolgt bin. Museo Barracco. Realmente vero, Pollak hat dort gearbeitet. Dort wareinige Jahre sein zweites Zuhause. Dort
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