Sepia
ruft, Sachen, die man nicht verstehen kann.
Eli geht folgsam, wie es das Leben will. Nass, klatschnass. Jetzt geht es erst richtig los, jetzt peitschen Schauer, es prasselt. Der Lkw ist bald nicht mehr zu sehen. Die Gestalt ist näher gekommen, sie hat noch an Größe gewonnen. So wie Eli ihn im Gedächtnis hatte. Ein schlammfarbener Regenmantel.
Wo hast du denn das Regenzeug her?
Vom Pfarrer. Gönnernhausen hat einen stolzen Pfarrer.
Das Pfarrhaus ist beinahe so alt wie die Kirche. Es wurde vor dreihundert Jahren für eine große Familie gebaut, vielleicht für drei Generationen mit vielen Kindern. Zur Haustür führt eine breite Treppe. Beiderseits ragen dunkle Fichten über das steile Dach, hoch am Giebel kratzt eine breitzinkige Fernsehantenne.
Hier war Ludwig untergekommen.
Frau Stumpe, die Flüchtlingsfrau, die unten im linken Flügel wohnt, hatte sein Klopfen gehört. Sie hatte die Pfarrerin gerufen. Der Pfarrer war aus seinem Studierzimmer im Erdgeschoss vor der Haustür erschienen. Ein fünfundsiebzigjähriger Herr, in sparsamer Gesellschaft mit den beiden viel jüngeren Frauen, seiner und der Stumpe. Sämtliche Kinder waren unterdes aus dem Haus. Sämtlich drüben im Westen. Die drei Pfarrerskinder an der Göttinger Universität und die beiden Flüchtlingssöhne in Wolfsburg bei V W.
Das alles hatte Ludwig noch vor der Tür vom Gönnernhäuser Pfarrer erfahren. Alles, um dem fremden Anklopfer zu erklären, dass er unbesorgt eintreten und auch Quartier nehmen könne.
Die Pfarrerin hatte Ludwig den Sportsack abgenommen.Sein Gepäck. Es sei Platz genug im Haus. Viele freie, unbenutzte Räume. Dies sei der Grenznähe zuzuschreiben, kein Zuzug, im Gegenteil Schwund, wenig Jugend, kein Nachwuchs, die Alten wandern aus. Wohin? In die Ewigkeit.
Ludwig hatte sich ein Zimmer, wo das Fenster zur Kirche und zur Straße hinausging, ausgesucht. Darin befanden sich Sofa, Tisch und paarweise aufeinandergestapelte Gemeindestühle, außerdem Türme von Gesangbüchern und Broschüren. Die Pfarrerin lud ihn ein, das Essen sei diesen Augenblick fertig.
Ludwig dankte, höflich wie einer, der noch Wege vorhatte, auch wie einer, der so etwas nicht braucht: Essen.
Er wanderte um das Kirchgelände und die nächstliegenden Gehöfte, und als der Weg ihn wieder am Pfarrhaus vorbeiführte, stand der Pfarrer winkend in der Tür, und die Frau, die nun sehr appetitlich nach Kartoffelsuppe roch, brachte den schlammfarbenen Regenmantel. Das Paar blickte dem Fremdling, der nun ihr Gast war, besorgt hinterher. Er trug den Regenmantel zusammengerollt unter dem Arm fast wie eine Bürde. Wie einer, der das Wetter, wie vorhin das Essen, verachtet. Ungeschickt für das Leben. Wenigstens für Dorfgegebenheiten und freie Natur.
Eli schreibt in ihr Gönnernhausen-Notizheft:
Ein wonniglicher August.
Auf einer leeren Seite steht oben wie eine Überschrift der Name Doris.
Es folgt in eiligen Zügen mit Bleistift der Entwurf eines Geständnisses, die Fortsetzung einer rustikalen Lebensgeschichte. Ein geteiltes Geheimnis.
Zwei oder drei? Wochen Tag und Nacht geliebt. Bei mir im
Gasthaus zur Sonne
, wo wir dann gegen Mittag gefrühstückt haben. Zum Rübenacker war es zu weit und zu spät.
Der Kaderleiter hat mir einen Verweis ausgesprochen. Ludwig hat mit ihm gestritten. Ich habe mich entschuldigt. Nun haben sie auch den Pfarrer zur Rede gestellt. Ludwig sei illegal, weil unangemeldet in Gönnernhausen.
Der Pfarrer hat gegen das Gemeindegesetz und die Einwohnermeldeordnung und die Regeln des Fremdenverkehrs verstoßen. Trotzdem oder grade deswegen hatte er uns zum Sonntagskaffee eingeladen. Ludwig brachte das Gespräch am Kaffeetisch bald auf die antiken Philosophen, Aristoteles, wo wir etwas Bescheid wissen. Bei dem Ärger, den der Pfarrer wegen uns hat, wollten wir ihn wenigstens anständig unterhalten. Wir fühlten uns in seiner Schuld. Die Frauen wussten wahrscheinlich nichts von unseren Eskapaden und den Vorwürfen, sie freuten sich mütterlich, weil wir Strudel mit viel Vanillesoße, dazu die Schlagsahne nicht als Alternative, sondern noch obendrauf aßen. Der Pfarrer sprach über die Kopten und die Aramäer. Es war sein Terrain. Nachdem wir einmal mehr Aristoteles durchgekaut hatten, die Poetik, die Rhetorik und die Politik, wollte der Pfarrer noch einen Spaziergang über den Kirchhof machen. Er schien prüfen zu wollen, ob wir nach dem Essen und Philosophieren, drei Nordhäuser-Doppelkorn-Runden hatte er umgehen lassen,
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