Sepia
aber im letzten Kriegsjahr und auch das Jahr danach musste sie als Helferin in die Schlossmühle gehen. Ihre Brüder sind bei der Marine gewesen und nicht wiedergekommen. Mama war das Jüngste von drei Geschwistern. Sie hat nichts erzählt, niemand hat was erzählt, aber ich weiß es. Jeder weiß, es war die 3. Kasachische Panzerbrigade, die hatte nach den Amerikanern das Harzvorland bis Sangerhausen besetzt und auch Gönnernhausen.
Sieh mich doch an.
Eli schaut in den Himmel.
Die Wolken. Wie schön die ziehen. Wunderbare Schleier. Ein dunkler Paravent, der deckt die alte Geschichte. Krieg und Panzerbrigaden und vermisste Brüder, alles fort, im trüben Kessel der Vergangenheit.
Keiner redet mit mir. Sagt Doris.
Was möchtest du denn wissen?
Warum ich lebe, sagt Doris.
Das merkst du doch, sagt Eli.
Sie schlägt Schritt für Schritt die Rübenhacke in die Erde. Vielleicht ärgert sie sich über Doris, weil die auch wieder nurein Schicksal schleppt. Alle Lebendigen haben ein Schicksal, wir sind die Nichttoten, die lebend Geborenen, eine verschuldete Nachkriegsgeneration. Du bist die Allerjüngste derer, die davongekommen sind. Warum willst du dich beklagen, dass du lebst. Der lange Gedanke hilft, wieder Anschluss zu gewinnen. Die anderen haben die Strecke auf dem Feld fast geschafft. Gerechtigkeit gibt es nicht, nicht mal gerechte Wut.
Komm, Doris! Wir verkloppen ein bisschen die gemeine widerspenstig verkrustete Erde. Schlag zu. Ich würde an deiner Stelle heimlich Kasachisch lernen, Russisch perfektionieren, dann würde ich mich an der altehrwürdigen Universität Alma-Ata bewerben. Nach ein paar Jahren bist du Kosmonautin in Baikonur oder Schafhirtin in Taldykurgan, je nachdem, wie es das Schicksal will.
Doris haut die Rüben nieder.
Dort frage ich mal herum, ob einer einen kennt, der nach dem Kriegsende in Gönnernhausen stationiert war.
Richtig. Das würde ich an deiner Stelle machen.
Wenn er dann vor mir steht, sage ich Guten Tag.
Richtig. Sdrastwujtje, towarischtsch Papa.
Menja sowut Doris.
Richtig. Moja rodina Gönnernhausen. Krasnaja semlja. Krasny gorod.
Jetzt haben die tiefen Wolken ein schweres Violett angenommen. Jetzt bekommt das anschwellende Rauschen der Fichten hinten am Wald einen Sinn. Es tröpfelt schon. Eine schwärzliche Wand treibt über den gezackten Horizont. Die Frauen schultern die Hacken, als Herde traben sie über das fertige Feld. Die Eile, beinahe Panik, gilt den toupierten Frisuren.
Auf der Landstraße poltert ein Lkw herbei. Fürsorglich eine Plane über den Bänken.
Weiter entfernt, verdeckt vom Lkw, dann frei für den, der sehen will, eine Gestalt. Ein Mensch, lang und dünn wie einAbendschatten, wie auf Stelzen stolzierend. Es ist seine natürliche Art. So geht er. Wie ein Mittelstreckenläufer, der längst gewonnen hat.
Eli erkennt ihn von weitem.
Im Augenblick, als der Lkw den Acker erreicht, geht es los mit dem Regen. Wasser für die Rübe. Feierabend für die Menschen auf dem Feld.
Krasnaja strana, krasnaja pogoda. Das ist Doris, ihre Art, beim Thema zu bleiben. Eli, ich kaufe uns im Konsum ein Moskauer Eis. Aber Eli hört überhaupt nicht mehr zu. Ihr Herz klopft. Innere Schauer vom Scheitel zur Sohle. Die Hackfrauen sitzen bereits im Trockenen. Unter der Plane. Die toupierten Helme gerettet. Man braucht dafür im Salon des Friseurhandwerks Gönnernhausen in der Reihenfolge: waschen, schneiden, färben (goldblond oder kastanie), wickeln, trocknen (Haube), toupieren, frisieren, lackieren, viel Zeit und schließlich nach den drei Stunden auch noch 10 Mark aus dem Portemonnaie. So viel Aufwand will gehütet sein. Doris klettert über eine Leiter auf die Ladefläche hinauf. Sie trägt zum Seitenscheitel eine Haarklemme, sonst nichts. Die Strähnen glänzen. Doshd idjot, es regnet, das macht ihren schwarzen Haaren nichts aus. Sie hält auf der Ladefläche einen trockenen Platz frei für Eli.
Eli. Steig auf.
Ich komme nicht mit. Ich bleibe.
Spinnst du?
Der Fahrer reicht die Leiter hinauf zu den Frauen, er schlägt die Klappe hoch in die Raster. Der Regen treibt, kein Aufschub, keine Diskussion mit niemandem. Was werden soll, wird werden.
Eli schaut hoch in den Regen. Sie geht ein paar Schritte. Im Takt, wahrscheinlich so, wie das Herz schlägt, wie der Motor neben ihr rattert. Schwere Tropfen poltern auf das Verdeck.Die Scheibenwischer rumpeln und pumpeln. Das ist der Rhythmus. So arbeitet das Gefüge der Welt. Räder drehen an Eli vorbei. Jemand winkt,
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