Sepia
Mensa, an den Tisch, wo die ausgesuchten Kandidatinnen für das Fach Schauspiel auf den Ruf zum Vorsprechen warten. Ist es ein Wunder, dass keine über Ludwigs Faxen lachen will? Die Mädels sind krank, die fallen bald um vor Lampenfieber. Ludwig sammelt persönliche Niederlagen, er sammelt Enttäuschungen. Er streckt die Mittelstreckenläuferbeine, er kippt mit dem Stuhl, noch einen Millimeter, dann fällt er aufs Kreuz. Sein kühles Urteil: Dieses Jahrsind hauptsächlich Schreckschrauben im Auswahlsieb hängengeblieben, verbissene Kneifzangen. Nichts dabei, dieses Jahr. In dieser Ödnis ist meines Bleibens nicht mehr.
Der Kameratisch protestiert. Das sind doch recht nette Bienen. Lockenköpfchen. Ludwig ist festgelegt, von ihm geht die Rede, er habe ein Auge für aparte Naturlockenköpfe, außen schöne Natur und innen subtile Mechanik, wie es Heinrich von Kleist in seinem Aufsatz über das Marionettenspiel beschreibt. Perfekte Künstlichkeit, das ist Kunst. Die Schauspielkommission hat ihre Aufnahmeparameter. Jedes Jahr schlägt das Pendel in eine andere Richtung. Diesmal ist Realismus in der Filmkunst angesagt. Lauter Typen, lauter Konflikte, Weiber, wo die Schönheit ganz tief innen steckt. Stumpfes plattfüßiges Leben. Zupackend. Pranken wie Klodeckel. Keine Marilyn Monroe in Sicht.
Immer diese Übertreibungen, ruft einer.
Du sagst es, ruft Ludwig.
Er reicht seinen Ex-Brief herum. Besteht Interesse? Weitergeben!
Eli lebt im Schattenreich. Im kleinen Vorführsaal, wo Filme für die Eignungsgespräche laufen. Satiren über Zeitumstände und Charaktere, Sachen, die wir im Wesen und in der Erscheinung längst kennen.
Eli fällt gleich wieder in die erprobte Schutz- und Ruhehaltung zurück. Wie im Mutterbauch. Die Knie hochgezogen, die Fäuste unter dem Kinn. Solange der nächste und übernächste Film läuft und auch in den kurzen Pausen.
Tags darauf findet Eli den roten Samt ihres Sessels immer noch nass von den gestrigen Tränen. Das Saallicht verlischt. Der Film beginnt. Weil heute niemand gekommen ist, keine Prüflinge, die mit einem Film auf das Gespräch eingestimmt werden sollen, keine Studenten, die einen Seminarschein inFilmgeschichte oder Bildgestaltung nachholen müssen, darf Eli den Ton auf null drehen. So bleibt nur das Knistern. Auf der Leinwand bräunlich-buntes Flattern. Sepia, eine Farbe, die zeigt, wie alt wir schon sind, eigentlich schon tot, jedenfalls vergangen. Sepia verklärt.
Hinter dem Pförtnerfenster steckt eine Postkarte. Eli, deine Schreibmaschine! Ihre Reparatur steht Mi. und Do. von 9 bis 18 Uhr zur Abholung bereit. 7,50 Mark. Stempel. PGH Büromaschinen.
Der Mechaniker führt vor, wie perfekt sämtliche Typenhebel jetzt funktionieren. Wie geschmiert. Wie neu. Schöner denn je. Er streichelt, putzt mit dem Lappen, stülpt den Kofferdeckel drüber.
Eli lädt die Maschine auf den Gepäckträger. Sie radelt über den Babelsberg, an der Sternwarte vorbei, direkt zum Haus der Kameraleute, dorthin, wo es im großen Treppenhaus gleich heftig nach Curry und Knoblauch riecht, wo das alte Brünnlein immer noch ohne Unterlass plätschert, sonst aber wenig Gesetz gilt. Ausbeutung ist abgeschafft. Schwerkraft und Kalender gibt es nicht. Auch keine Uhren. Denn durch das Dachfenster im Zikadenfries grinst ein immerwährend fröhlicher tellerartiger Mond. Andauernder Vollmond. Dort, wo Ludwig lebt. Wo grenzenlose Zuversicht herrscht. Zünftiger Glaube. Geniales Vertrauen. Totale Gegenwart.
An einer Wäscheleine klammern Fotos. Schwarzweiße Serien zu einem vorgegebenen Thema. Kinderkrippen.
Die Kamerastudenten haben die Halle im Erdgeschoss jetzt ganz zur Gemeinschaftsküche ausgebaut. Eine dritte Kochstelle. Ein Mehrzwecktisch für zwanzig Personen. Viele Kaffeetassen. Gebrauchtes Geschirr. Überquellende Eimer.
Meng Hai-Feng hat Dumpling gekocht.
Gleich fertig, sagt er. Eli, du bist in Zeit gekommen. Erschiebt den Tisch frei, stellt einen Teller hin, legt Stäbchen daneben. Eli zieht einen Stuhl herbei. Sie findet unter dem vielen Schreib- und Esskram ein Blatt Papier. Einen Stift. Sie braucht nur eine Minute oder zwei.
Meng verbeugt sich.
Er geht rückwärts zum Herd, weil er Eli und die deutschen Dichter und Denker achtet, fast so wie die Köche, das Kochen, das Essen. Er rührt im Topf. Gleich fertig. Eli, du bist in Zeit, nimm Zeit.
Lieber Mensch, hier ist meine Schreibmaschine. Ich werde sie nicht mehr brauchen. Eli.
Mit einem Haar bindet Eli die kleine eingerollte
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