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Sepia

Sepia

Titel: Sepia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Schuetz
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Tatsächlich, das Heft mit den Notizen steckt seitlich in der Tasche. Auf der ersten Seite die verwackelte Skizze. Gönnernhausen, wie es leibt und lebt, und weiter Gönnernhausen im August. Wie sich das Ich hinter dem Ich versteckt. Ein angefangener Brief an Anton liegt zwischen den Seiten, gepresste Pflanzen, Flora des Harzvorlandes, ein trockenes Blatt vom Fingerkraut. Der Bleistift rollt heraus. Eli fängt an zu schreiben. Die Fortsetzung vom Ende der Nacht, vom Morgentau, der, den Glanz der Sonne erwartend, auf den Blättern liegt, um zu glänzen.
    Gönnernhausen. Ein wonniglicher August.
    Grenzsoldaten haben uns erwischt. In flagranti im Schloss, das im Sperrgebiet liegt.
    Ludwig wollte den Renaissancebau unbedingt sehen. Er kannte inzwischen das Dorf samt Kirche und Kirchhof. Das Kriegerdenkmal. Der Pfarrer hatte uns nach dem Kirchhofsgang aus der Ortschronik vorgelesen. Schlossgeschichten. Kaiserzeitliches. Eine Pfalz, ein Vogelherd. Ludwig wollte trotz Sperrgebiet unbedingt hin. Mir war mulmig.
    Es gab keinen Zaun, aber Schilder, die sagten, dass wir ziemlich unstatthafte Wege gehen, schon überwachsene, vergessene. Niemandsland. Grenzgebiet. Ludwig unerschrocken. Er fand am Turm eine offene Wirtschaftstür, Treppen, Durchgänge und weitere Türen. Er brauchte gar keinen Mut. Er zog mich, ich lief hinterher, halb Schlossmuseum, halb Herrschaftswohnung.Ledertapeten, Kommoden, Standuhren, Absperrkordeln. Im Speisesaal zwischen vollgestellten Schränken, seltsame Apothekersachen, Zinn und Porzellan, ein Fenster, das sich ohne Mühe öffnen ließ. Am Waldsaum, hinter Mückenschwärmen und Fichten, eine untergehende Sonne. Ich habe Fahrzeuggeräusche gehört. In der Ferne klopfte ein Specht unermüdlich auf wunderbar hallendes Holz. Ludwig betrachtete alles genau, auch die kleinen Sachen. Intarsien. Klöppelspitzen. Er setzte sich auf ein samtbezogenes Kanapee, streckte sich, zupfte munter an meinem Rock. Hiergeblieben, hier bleiben wir. Während seine Hände mich packten, während wir uns umarmten und abwärts auf einen runden Teppich fielen. Draußen ein Schuss, eine Signalrakete. Rütteln, Schütteln. Ein galoppierendes Reh? Ist denn das Liebe, wenn die Angst unter diesen Umständen einfach ihre Fesseln verliert und die Zeit ihre seltsam verschlungene, in Schleifen und Schlingen verlaufende Dimension.
    Hier bleiben wir.
    Doch so weit sollte es nicht kommen. Eine scheintote Standuhr sorgte dafür. Sie hatte jahrelang stillgestanden, nun setzte sie einen hämisch donnernden Schlag in unseren siebenten Himmel. Dem Schlag folgte ein kurzes endgültiges Röcheln. Lichtkegel schossen auf uns hernieder. Armeetaschenlampen.
    Soldaten, die man per Funk zum Einsatz gerufen hatte. Das Motorgeräusch war kein Forstauto gewesen, sondern der Jeep der stationierten Truppe. Die Standuhr hatte nicht nur Ludwig und mich, sondern auch die Schleicher erschreckt. Die Soldaten hatten unsere Bewegungen im Terrain von Anfang an beobachtet, bald herausgefunden, wer wir waren: die Irren. Prinz und Prinzessin aus dem Land des Lächelns. Die Kerle wollten uns frech überraschen. Es sollte ein Jux werden, aber nur solange bis wir uns in ihrer Scheinwerferrunde auf die Beine gestellt,unsere Kleider sortiert und schließlich alle Sachen wieder richtig auf dem Leib hatten.
    Ludwig in seinem Element als Klassenkasper. Er stülpte sich eine Vase auf den Kopf, er band sich einen Strick um den Hals, eine rote Kordel, was ihm so einfiel, um das junge bewaffnete Volk zu unterhalten, um uns eine Frist zu verschaffen. Er konnte ohne Mund reden. Wenn ihr Schlechtes denken wollt über die Menschen, fangt bei euch an, dann irrt ihr euch nie. Er freute sich, wenn alle lachten. Wenn ich lachte, fiel er verzückt auf die Knie. Das nennt man Galgenfrist. Ludwig küsste meine Füße.
    Bis wir per Handschelle aneinandergekettet auf der Rückbank des Autos dingfest gemacht worden waren. Ab nach Magdeburg. Zum Verhör. Akte Prinz und Prinzessin. Das Motorgeräusch. Sie waren längst auf der Lauer und auf dem Weg, uns zu fangen.
     
    Noch bevor das Studienjahr anfängt, bekommt Ludwig seinen Brief. Überschrift: Exmatrikulation des Jugendfreundes Ludwig Zweig. Der Dekan führt mit ihm ein Gespräch. Der Dekan sagt:
    Wir schicken dich ins Mansfelder Kupferschieferrevier. Dort sind unsere Menschen, und du gewinnst Zeit. Er trägt ihm als Geschenk ein Buch hinterher, einen tschechischen Roman.
Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk
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    Ludwig flüchtet in die

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