Sepia
immer noch ordentlich bußfertig waren. Ich war es längst nicht mehr, ich wusste, was ich lieber getan hätte, aber Ludwig sagte: Mit Vergnügen.
Das muss man gesehen haben. Für draußen, für die Dorfgegebenheiten und für seine Fußgelenke, besitzt der Pfarrer ein paar extra Schnürschuhe, dick besohlt und extra hoch, mit tausend Haken. Die blinde Fingerfertigkeit, das Tempo bis zum Ende, bis zum doppelten Knoten. Seine Hände zitterten, weil er die Schnürgeschwindigkeit wohl noch steigern wollte.
Mit Vergnügen. Ich vermute, das ist Ludwigs Wahrheit. Ich vermute, er ist nicht hergekommen, um bei mir zu sein. Ich weiß nicht, warum er nach Gönnernhausen gekommen ist.Ach, anderntags weiß ich es wieder ganz genau. Am wundervollsten sind unsere Ausflüge, noch fast in der Nacht, wenn die Sterne wie höfliche Gäste zur ausgemachten Stunde verschwinden. Wenn der Nebel fällt, wenn Tauperlen glitzern.
Befremdliches geschieht im Ort.
Eines Tages werden Eli und Ludwig in einem zivilen Wartburg unter Bewachung von zwei zivil gekleideten Angehörigen der Grenztruppen von Gönnernhausen nach Magdeburg abtransportiert. Ein Offizier der NVA hatte sie zuvor nach Dienstvorschrift mit Handschellen aneinandergekettet. Die Sachen von Ludwig wurden im Pfarrhaus requiriert. Elis Rucksack war zeitgleich unter Aufsicht eines Protokollanten von der Leiterin des Gasthauses zusammengepackt worden. Arbeitsanzug, Kleider, Bücher, Schreibzeug.
In Gönnernhausen hatte niemand den Abtransport der Fremden mit eigenen Augen beobachten können, aber man hat es kommen sehen. Das Drama, es war ein passender Schluss. Der Grund der Festnahme: Verletzung der Staatsgrenze in erschwerter Form. Die Folgemaßnahmen, die sich im Ort gerüchteweise herumsprachen, waren abschreckend und irgendwie wahrscheinlich gerecht.
In Magdeburg hatte man Ludwig und Rafaela von den Ketten und auch räumlich getrennt. Einzelhaft.
Der Diensthabende hatte mit dem Prorektor der Schule und der Bezirksleitung telefoniert, weil er mit den neuen Richtlinien noch nicht umgehen konnte. Er sah interne Widersprüche. Von der Filmabteilung, einer höheren Stelle mit einem Briefkopf vom Ministerium für Kultur, lag ein Schreiben auf seinem Tisch. Die Festgenommene Rafaela Reich habe für einen Kurzfilm über eine jüdische Klarinettenspielerin einen poetischen Kommentartext geschrieben, der Film sei in diesemJahr für einen Preis vorgesehen. Gold für den Regisseur, auch die Mitarbeiter sollten mit einem Lorbeerzweig belobigt werden.
Der Zwischenfall mit der Reich, Rafaela passe schlecht. Ausklammern der Autorin des poetischen Kommentars wäre möglich, aber blöd.
Der Vorgang wurde weitergereicht.
Poetisch, das dunkle Wort, ein Wort, wie ein Geheimmanöver, kroch über zuständige Schreibtische in Magdeburg. Man entschied nicht gleich und nicht ohne Bedenken und Rücksprachen, denn die Kulturleute lebten in anderen Sphären, aber schließlich doch: Fall erledigt.
Nach 14 Tagen wurde Eli von zwei Männern zum Hauptbahnhof begleitet.
Eli sitzt in einem D-Zug-Abteil. Allein. Nur der Rucksack ist bei ihr. In der Hand hält sie eine kleine Pappe. Das ist eine rot gemaserte Sonderfahrkarte. Der Schaffner weiß Bescheid. Er knipst ein Loch in die Ecke. Er wünscht bis zur Endstation guten Schlaf.
Die Hirnschale ist eine knöcherne Felswand. Eli hört Stimmen, das Echo. Glockenrein, silberklar. Eli, ein stetes Vorbild. Besonnen, freundlich. Fleißig beim Rübenhacken.
Pünktlich. Anfänglich, zuerst, zu Beginn ihres Aufenthaltes in Gönnernhausen ist sie ein guter sauberer Mensch gewesen. Die Stimmen tönen von mehreren Seiten. Das Echo schallt. Jemand berichtet vom aufgeräumten Zimmer im Gasthaus. Eine junge wohlmeinende Stimme sagt, sie habe jedes Unkraut auf dem Feld mit lateinischem Namen gekannt. Warum nur das Unkraut? Ein Einwurf, so ein Warum, so eine Frage kann die Waage kippen. Gleich nimmt Doris wieder das Wort. Beta vulgaris, die Zuckerrübe. Lauter positive Sachen. Stichworte ausdem Schreiben der Filmverwaltung. Poetisch. In den Felsengrotten des Gehirns saust das Echo. Das Echo des Echos.
Später sei der Teufel über Eli gekommen. Der Teufel habe beim Pfarrer logiert. Er habe einen Fliegenpilz gefressen. Roh aus der Hand. Doris kann nichts bestätigen, aber sie kann es sich vorstellen. Fliegenpilz und auch das andere. Klar, er hat rübergewollt in den Westen. Die Grenze verletzen? Das nicht. Rüber, das ja.
Eli kramt im Rucksack.
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