Sepia
liest sie ungefähr in der Mitte, immer die gleiche Stelle, wo es ums Tintekochen geht. Es ist ein Roman von Jean Paul mit dem Titel
Leben Fibels, des Verfassers der Bienrodischen Fibel
. Jemand hatte mit solcher gekochten schwarzen Tinte eine Widmung vorn auf die erste Seite geschrieben: Es gibt noch keine Mode, zu sterben. Jeder stirbt originell.
Hast du keinen Besuch?, fragt eins der Zwillingsmädchen.
Der ist noch nicht da.
Wann kommt er denn?
Später.
Das glaube ich nicht, sagt das Kind.
Eli dreht sich zur gemusterten Wand. Braune und grüne Striche, es sind Grashalme. Eli blickt auf eine Grashalmtapete. Es dauert eine Weile, allmählich wird aus den Halmen wieder ein Wald.
Es ist ein taugliches Gelände. Eine Hütte, darin ein Kinderbett. Sommer, aber die Frau sorgt vor. Sie arbeitet, während das Knäblein schläft, baut Holzscheite zu einer Feime auf. Sie sägt und hackt. Schönes weißes Birkenholz mit einem braunen Kern. Der Winter kann kommen. Noch steht der Tisch vor der offenen Tür unter dem sogenannten Himmelszelt. Wichtige Dinge sind am Platze. Eine Bank, Penatencreme aus dem Westen, ein Brot aus dem Backofen. Zwischen den Kiefern die Wäscheleine, Windeln trocknen. Erinnerungen an die Freundin. Lebensumstände. Verweilen. Leiser Wind, abschüssig geht der Blick auf das Ufer eines heiligen Sees. Dort entlang führt der Weg. Man sieht den Kerl in der Ferne. Er braucht seine Zeit, er verschwindet hinter den Bäumen. Nun wandert er wahrscheinlich im Wald. Sie kann warten. Sie wünscht sich, dass er Weihnachten ankommt. Der Kleine schläft, oder er spielt mit einem schwarzen perlenäugigen Eichhorn. Es ist ein freundlichesKind. Fotos von ihm hängen an einer Schnur. Seine Mutter besitzt Bleistifte und Papier. Sie malt. Laufende Bilder. Sie übt die Kunst des Vergessens. So entstehen ein Film und gleich auch ein Film im Film.
Eli blinzelt gegen die Wand, sie greift nach dem Taschentuch und dem Buch auf dem Krankenhausnachttisch.
Großen Schmerz steckt man leichter ins tiefe Herz zurück als große Freude – weil zwar Überschmerz das Herz langsam zerlässt, aber Überfreude es gewaltsam zersprengt, auch schon, weil man sich unbesorgter den reißenden Paradiesflüssen der Entwürfe als den zurückgehenden Höllenströmen der Fehlschlagungen übergibt, und weil man daher bei großen Freudenstürmen zuerst dem Herzen Luft zu machen hat durch die Lungen, das heißt durch Sprechen.
Paradiesflüsse. Höllenströme. Der Romantiker Jean Paul.
Verabschieden Sie sich. Das ist die Stimme der Oberschwester. Ihr Berufskleid, ihr strenger Blick treibt die Besucher aus dem Saal. Die Tür schlägt.
Eli schiebt das Buch unter das Kopfkissen. Für die Bettnachbarin gilt das Zuklappen des Buches als Signal. Jetzt sind wir wieder unter uns. Sie reicht zum Zugreifen eine Schachtel mit Weinbrandbohnen hinüber zu Eli und dann einen Becher.
Brühe mit Knochenmark vom Rind. Noch heiß, die hat Tante Frieda meinem Mann in der Thermosflasche mitgegeben. Gut für die Muttermilch, gut für die Nerven.
Bitte sehr, Fräulein Reich.
Eli lächelt. Die Hand, die den Becher nimmt, zittert.
Die Nachbarin macht Mut.
Das gibt wieder Kraft, Fräulein Reich.
Eli kriecht aus dem Bett, weil ihr von der fetten Brühe schon wieder schlecht wird. Sie schlingt ein Stationsbadetuch um die Hüften, damit sie in dem kurzen, hinten offenen OP-Hemdnicht halbnackt herumläuft. Die Korksandalen findet Eli im Nachtschrank. Im Schrank, zusammengeknüllt, ihr Leinenrock und die Schlüpfer und Peters Hemd. Sie versteckt das Bündel unter dem Badetuch. Im Waschraum wirft sie das Zeug in die Badewanne. Lange gurgelt rotes Wasser, flatterige Fasern schwimmen zum Abfluss. Eine kleine zerfranste Purpurblüte verschwindet.
Hinter geriffeltem Fensterglas sieht man eine Häuserzeile. Regenblanke Dächer. Wohnliches Dessau im Spätsommerlicht.
Der Zug fährt durch den Hohen Fläming, es ist die alte Kanonenbahnstrecke, schnurgerade gebaut, zweckmäßig durch Wald und Flur. Schwarze Brandstreifen und Sandgräben begleiten die Gleise. Nirgendwo Menschen oder Tiere. An manchen Stellen blüht immer noch Heide. Leere Weideflächen, freigeräumte Getreidefelder. Himmel hüben und drüben, rötlicher Abend, bläulicher Morgen. Endlich oben im rötlichen Schein ein paar Kraniche, ein Keil, der in Gegenrichtung nach Süden zieht.
Sandra und Anke haben eine bastumflochtene Flasche Stierblut gekauft. Einen Liter, dunkel und kühn. Auf das
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