Sepia
denn alle Blumen der Wiese hast du geschlummert, liebliche Blume, Primula veris. Es sind zehn Strophen, bis: Ging doch der Blume gläubige Seele nimmer verloren.
Starker, nicht enden wollender Applaus. Mit Zeitverlust Sturm auf die Garderoben und die Toiletten.
Eli hockt hinter der verriegelten Tür. Es macht sich kompliziert mit der Fundusjacke, dem Overall, der Mappe, den Blumen. Sie verhält sich still, bis der Betrieb vorüber ist. Horcht, reißt den Briefumschlag auf. Zehn neue farbenfrohe Hunderter. Tausend Mark. Eli zählt noch einmal.
Ist noch wer da? Eli hört, wie die Toilettenfrau das Kleingeld vom Teller klimpert.
Ich.
Sie sind die Letzte. Nur keine falsche jüdische Hast.
Eli marschiert Unter den Linden entlang, Alexanderplatz, Karl-Marx-Allee. Goldbedruckte graue Mappe, Nelken und erhobenen Hauptes. Bis zum Fischrestaurant. Dort wartet sie auf die Platzierung. Dort isst sie aus dem Mai-Angebot eine Ostseeflunder mit Kartoffelsalat. Sie trinkt ein Radeberger Bier. Bestellt einen Eisbecher Havanna mit Birnen, Erdbeersirup und Sonnenschirm.
Das Sportkaufhaus hat geschlossen. Schade, sonst hätte sie sich heute einen Schlafsack gekauft oder wenigstens gefragt, ob es Schlafsäcke gibt.
In den Fenstern der Buchhandlung stehen lauter Schätze, Stendhals Novellen, Gotthelfs Erzählungen, ab Montag für Eli erreichbar, was kostet die Welt, Eli kann zahlen.
Am Montag um neun ist Seminartag beim Dekan.
Um acht öffnet die Sparkasse. Eli steht schon vor der Tür. Der Schalterdienst nimmt einen Federhalter und Tinte, um die Zahlen in die richtige Spalte der ersten Zeile zu schreiben, er zieht Doppelstriche, setzt einen Stempel. Nun ist Eli Besitzerin eines Sparbuchs. Es gibt drei Prozent Zinsen, hat der Fachmann ihr beigebracht, und dafür einen Zinseszins und immer so weiter.
Und wenn ich das Geld haben will?, hatte Eli gefragt.
Können Sie es jederzeit abheben, hatte der alte Schaltermann, der eben noch mit Eli und der Weltordnung, trotz der neuen Rahmenbedingungen, an seinem Platz zufrieden gewesen war, mit deutlichem Missvergnügen erklärt. Es bleibt dabei. Die Jugend ist immer in Gefahr, zu verlottern. Abheben, das gehört sich nicht. Ein Konto muss wachsen.
Eli beeilt sich. Sie muss pünktlich sein. Der Dekan liebt Frühsonne, einen polierten, hochglänzenden Tisch, ringsherum junge, unerschrockene Gesichter. Eli im Gegenlicht.
Felix hat sich für weitere vier Monate beurlauben lassen. Begründung liegt vor. Schriftliche Arbeiten sind per Post unterwegs oder werden in Kürze auf den Weg gebracht.
Siegfried hält heute seinen Seminarvortrag über Fritz Langs Film
Dr. Mabuse.
Wahnsinn und Genie. Expressionismus im Film.
Eli beobachtet einen Vogel. Er sitzt hoch auf einem dürren Ast. Er ist schwarz, und Eli wartet, bis er sich bewegt und dreht. Groß wie eine Taube, flink und schlank wie ein Kuckuck. Jetzt darf Eli den Vogel nicht aus dem Auge verlieren. Sie muss ihm folgen. Es wäre mühsam, ihn in den Baumkronen wiederzufinden. Er springt in den Ästen herum. Kreuz und quer.
Siegfried hat den Vortrag in Kapitel gegliedert. Nach der Pause setzt er fort. Der Dekan hat mehr Tempo gefordert. Es kann sein, dass Siegfried heute nicht zum Ende kommt, er wird das letzte Kapitel, den Ausblick auf den Film
Das Testament des Dr. Mabuse
, und schließlich noch Fritz Langs Zeit in Amerika am nächsten Montag weiterführen.
Das Programm am Nachmittag gehört zu Siegfrieds Vortrag. Im großen Saal werden beide Mabuse-Filme gezeigt. Der Archivleiter hat ganz vorn im Regal die Urfassungen gefunden. Die sind noch länger und noch lauter. Eli richtet sich auf ihrem Stammplatz ein. In erprobter Position. Augen zu. Die Musikdröhnt, schwillt an, schließlich ein schrecklich gebrülltes Gloria. Da ist der Tyrann endlich tot.
Elis Urkunde soll gerahmt und im Hauptgebäude aufgehängt werden. Das hat der Dekan angeordnet. Vielleicht über der Vitrine mit den Sportpokalen. Im Fechten ist die Schule gut. Auch im A-Klasse-Springreiten. Aber da streitet der Stall mit der Schule, ob die Rosette dem Pferd oder dem Studenten, also dem Reiter, gehört.
Schubert trägt einen Verlobungsring. Ausgerechnet der. Wer verlobt sich denn heute noch? Niemand. Ein Verlobungsring ist so altmodisch wie ein Korsett und so unnötig wie ein Kropf.
Was Schubert wohl treibt, wenn er sich nicht auf seine Seminare über Bloch oder Hegel oder die antiken Philosophen vorbereitet? Er sitzt in der Uni- oder in der
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