Sepia
Ein vergilbter Holzschnitt, 1632, Dresden, Kanonenkugeln treffen den Mittelbogen der Augustusbrücke. Der Antiquar hat dafür zwei Mark haben wollen. Auf der Rückseite des braunfleckigen gefalteten Blatts steht mit feinem Bleistift: Königin Anna, Gärtnerin. Mispeln und Johannisbeeren in Sachsen. 15 Kinder. Elis Schrift.
Unten aus dem Fenster der Studentin für Dokumentarfilmregie tönt Chuck Berrys
Johnny B. Goode.
Erleichtert, neugierig, in müder Erwartung riegelt Eli ihr Fenster zu.
Die Feierstunde findet am Sonntagvormittag im Apollosaal der Staatsoper statt. Eli trägt zum grünen Overall eine schwarze Jacke. Wie auf den Leib geschneidert. Die Kostümbildnerin hilft jederzeit gern, sie stattet den Schulfasching aus, Hochzeiten, Trauergäste. Im Studiofundus lagert alles: Anzüge mit Kummerbund, Zylinder, Kleider mit Schleppe, Federhüte, Sachen noch aus Ufa-Zeiten und die neusten amerikanischen Uniformen. Die Uniformen aber unter Verschluss, seit ein Kollege aus der Baubrigade als Charly in einem amerikanischen Militarybus, der auf Ausflugstour im Osten war, getürmt war. Die schwarze Ripsjacke gehörte zur Garderobe einer Turnierreiterin aus dem alten Film
Reitet für Deutschland
. Die Kostümbildnerinist kompetent, sie hat gesagt, Eli, die Jacke passt, die kannst du anziehen, so kannst du gehen.
Eli sitzt auf Platz eins in der ersten Reihe, also ganz an der Seite. Es folgen mehrere ältere Meisterregisseure aus dem Studio. Genau in der Mitte haben die Vertreter der Partei, des Staates und der Massenorganisationen Platz genommen. Den Dekan sieht man auf der anderen Seite, auch ziemlich vorn, in der Nähe der Hauptpreiskandidaten: Spielfilm, Dokumentar- und Wissenschaftsfilm. Sparte Musik, Schnitt, Kamera und Regie.
Hinten irgendwo Schubert. Eli hat ihn unterwegs auf dem Bahnhof gesehen. In Karlshorst beim Umsteigen aus dem Sputnik in die S-Bahn. Eli ist seit drei Stunden unterwegs und seit drei Stunden müde. Unter der Kopfhaut stichelt das alte Leiden. Fieber. Rauschen wie Schilfgras. Ferne Stimmen. Narkotische Düfte wabern. Das französische oder schwedische Exquisitrasierwasser der Meister. Eli sinkt. Ihr Kopf neigt sich schräg, hin zu der nächstsitzenden Schulter. Kurt Maetzigs Schulter? Schulter des Regisseurs der Thälmann-Filme? In letzter Sekunde reißt sie sich aus dem Schlaf. Sie kneift sich ins Bein. Sie beißt die Zähne zusammen. Anton würde sagen. Klemm dir mal, damit du nicht einpennst, ein Streichholz unter das Augenlid.
Auf dem Podium ein weißes Rednerpult, ein weißer Flügel. Weiß vom Scheitel bis zur Sohle der Pianist und auch der Tenor Peter Schreier. Einschläfernd schwindet das Licht des Kronleuchters. Peter Schreier spannt die Brust:
Es schienen so golden die Sterne,
Am Fenster ich einsam stand.
Und hörte aus weiter Ferne
Ein Posthorn im stillen Land.
Eli faltet die Hände, presst die Finger. Das Sticheln unter der Kopfhaut fließt als kalter Schauer den Rücken hinunter.Weder Schlafen noch Wachen, weder Traum noch richtige Tatsache mit Hand und Fuß. Am weißen Pult hat der Lobredner Stellung bezogen.
Er spricht klar und laut und wahrscheinlich deutsch, aber Eli versteht kein Wort, auch die heiteren Anmerkungen versteht sie nicht. Die Meisterregisseure kennen den kleinen witzigen Mann gewiss ganz genau. Beim Zwischenapplaus nicken sich Elis Nachbar und der Redner grüßend zu, auch Eli zeigt einvernehmliche oder auch traumverlorene Zustimmung. Ein Lächeln. Sie schnuppert den nämlichen Rasierwasserduft ihres Nachbarn nun auch vom Rednerpult. Es könnte das sagenhaft teure Panache sein. Es könnte der Kulturminister sein, der da duftet und spricht, vielleicht ist er persönlich gekommen, oder es spricht der kleine Kriminalfilmregisseur aus Ungarn. Vielleicht hat der Ungar die Lobrede übernehmen müssen. Eli seufzt und gähnt. Der Nachbar, Maetzig, wie er leibt und lebt, wird langsam aufmerksam. Fehlt Ihnen was?
Entschuldigen Sie bitte. Es ist bloß das Blei.
Am Ende der festlichen Matinee hält Eli eine mausgraue leinengebundene Mappe, dazu drei rosa Nelken auf dem Schoß. In der Mappe eine Urkunde und ein Briefumschlag. Eli verbietet sich, an den Briefumschlag zu denken. In steifer Haltung lauscht sie dem Lied. Das müsste jetzt Anton erleben, mich mit der Mappe und Peter Schreier, unserem Dresdner Kreuzchorknaben, was aus dem geworden ist.
Peter Schreier singt Mendelssohn Bartholdy,
Botin des Frühlings
, nach einem Gedicht von Nikolaus Lenau. Leiser
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