Sepia
Künstlerfamilie versprochen hatte, beruflich und privat, das Finanzielle eingeschlossen. Die Talente von Mutter und Tochter wurden nicht wirklich voll erkannt und gewürdigt. Es ist schade, dass die immer hilfsbereite unerschrockene Michaela fortgeht. Das naive Weltkind, sagt Schubert.
Die Besten bleiben. Sagt Siegfried Müller. Ludwig ist eine Ausnahme. Ausnahmen bestätigen die Regel.
Eli will sich auf Schuberts Urteile und Prognosen, auf seine ganze Hegel’sche und Bloch’sche Gelehrsamkeit und seine Erziehung im Waldorfkindergarten nicht mehr verlassen. Dass er nach dem Film, meist aus internationalem Festivalangebot, den der Außenhandel jeden ersten Montag im Monat den Studenten in einer schnellen inoffiziellen Abendvorführungstiftet, im Finstern die Treppe zu Eli hochschleicht, in alter Manier, scharf auf das gemeinsame Boot, den Kahn, die nächtliche Kahnfahrt, immer ein Buch in Reserve und Meinungen, ausreichend bis weit nach Mitternacht, das ist Tradition und Protest, beides macht zufrieden und stark, ist aber nichts wirklich Wunderbares, nicht wirklich Liebe. Eli stellt sich Liebe anders vor. Wie es geworden wäre mit Ludwig. Nicht, wie es mit Ludwig war. Das konnte die Liebe noch nicht gewesen sein. Es war der Anfang von dem, was gleich unverdient urplötzlich beginnen würde. Sonnenaufgang am Meer. Ludwig konnte abwesend sein oder hier seinen äußeren Blick sonst wohin richten, zu den neuen Studentinnen der Fachrichtung Schauspiel, er hatte doch nur immer Eli im Sinn. Jedes luftige Wort in die Luft geredet, galt ihr. Gracia mia. So will es das Gedächtnis.
Schubert hat diesmal Gotthold Ephraims
Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie
mitgebracht. Das Reclambändchen liegt unter den Kleidern, unter der Cordhose usw. Lessing, weil Schubert sich Sorgen macht. Weil Eli säumig ist. Die anderen Fachrichtungen haben ihre schriftlichen Arbeiten längst abgeliefert. Sie haben schon Termine für die mündliche Prüfung. Während der Fakultätssitzung habe sich der Dekan nach seinem Jahrgang, den eigensinnigen Sechzigern, erkundigt, angelegentlich nach Rafaela Reich. Der proletarischen Perle in seiner goldenen Krawattennadel. Sie arbeitet am Laokoon-Text, habe ich ihm erklärt. Damit habe ich doch recht? Stimmt doch, oder? Schubert fühlt sich jedes Mal, wenn er dem Dekan Bericht erstattet, ertappt. Er kann sich drehen und wenden, er landet immer gleich bei Eli. Wir haben im Jahrgang, wenn man den Österreicher nicht zählt, nur noch zwei Studenten. Siegfried Müller und die Perle, Rafaela Reich. Überall Rafaela. Schubert berichtet dem Dekan. Fräulein Reich sei etwas ins Hintertreffen geraten.
Und fügt sogar noch, hintersinnig schützend, hinzu: Es warmöglicherweise ein Fehler, die Reich damals hier aufzunehmen. Er fängt an zu schielen, so beißt das Gewissen. Hin und her. Deswegen und überhaupt. So viel Härte und Verleumdung muss sein, Eli, ich hüte dich.
Der Dekan, ein Monolith in seiner Weisheit und Gnade, habe dazu genickt und ergänzt: Unserem Arbeiterkind fehlen immer noch knapp 500 Jahre.
Eines Tages findet Eli beim Pförtner einen braunen Brief. Absender Anton aus Dresden. Große Freude. Geschmälerte Freude. Im Umschlag steckt ein Brief aus Rom. Von Erika. Ludwig, du Lump, du fauler Hund, du Ignorant. Du Inseltier. Wie geht es überhaupt meiner tipptopp reparierten Schreibmaschine? Ein Streit bis auf das Damalsblut, samt zärtlichster Versöhnung.
Erika berichtet Gutes aus Rom. Sehnsucht, sogenanntes Heimweh, eigentlich keins. Enrico geht im Kloster der Ursulinerinnen in die Spielschule. Sie verdient mit Sprecherziehung nicht schlecht. Sie färbt sich die Haare. Es gibt dafür ganz gute chemische Mittel. Weil sie nicht ihr Leben lang deutsche Frauen oder Skandinavierinnen spielen möchte. Nicht immer nur Blonde. Sie lebt jetzt also als kohlrabenschwarze Signora, als italienische Mama, übrigens mit Kugelbauch. Schwanger im siebenten Monat. Und das ist eine Freude. Für Enrico vor allem. Der wünscht sich ein Brüderchen. Die Familie von Alfredo, die Nonna besonders, wartet schon lange darauf.
Nun zu Deinem Laokoon:
… Ja, ich habe ihn gesehen. Er ist eine der Hauptattraktionen der Vatikanischen Museen. Ich konnte gut mit dem 64er Bus bis zum Petersplatz fahren, dann zehn Minuten zu Fuß, und ich stand vor ihm. Erst einmal: Ich hatte ihn mir größer vorgestellt, den Vater, die beiden Kinder, das Schlangenknäuel. Ichnehme ja nie die Maße zu Kenntnis, die
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