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Sepia

Sepia

Titel: Sepia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Schuetz
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in den Kunstbüchern unter den Abbildungen angegeben sind. Das ist, ich sehe es hier, ein Fehler. Nicht mehr als lebensgroß sind die Figuren, der Vater und die beiden Söhne, dafür armdick die Schlangen, die Würgeengel, die Werkzeuge der verärgerten Göttin. Doch es gibt mehr. Denk Dir, Eli, der zweitausend Jahre alte Vater Laokoon sieht anders aus. Er hält sich ganz anders. Die Abbildung im Band
Kunst des Altertums
von Richard Hamann, auf die du dich beziehst, ist falsch oder doch zumindest veraltet. Das Falsche an der Sache kennen die Experten seit fünfzig Jahren. Manche zweifeln noch, manche wollen es bis heute nicht wahrhaben, dass nicht stimmt, was alle, beinahe alle, in den vergangenen Jahrhunderten für herrlich und richtig gehalten haben. Lessing, Herder, Goethe, die Herzogin Anna Amalia, Winckelmann, Schopenhauer, Hamann in deinem Kunstbuch.
    Ich sehe hier: Der sterbende Vater Laokoon hat einen anderen rechten Arm. Nicht den altbekannten muskulösen Arm, der die Schlange gestreckt gegen den Himmel hält, den imponierenden kräftigen, nicht den rechten Arm, den Du und Goethe kennen. Du von der Abbildung, dem Schwarzweißfoto, und der in Rom weilende Goethe von der ausgestellten Skulptur. Der richtige rechte Arm bildet im Ellenbogen einen Winkel, denn der Arm wird augenblicklich von der Schlange mit Gewalt hinter die Schulter zum Genick gezogen. Laokoon also im Kampf mit der Schlange rein kräftemäßig demütigend chancenlos, k. o. gesetzt. Ich habe Dir das ungefähr skizziert, leider hatte ich keinen Fotoapparat bei mir, und neue Postkarten vom Laokoon mit dem richtigen Arm gibt es noch nicht. Man lässt sich Zeit. So wie man mit der Korrektur der Skulptur viele Jahre gewartet hat. Den richtigen Arm soll schon 1905 ein in Rom wohnender Herr Pollak gelegentlich eines Nachmittagsspaziergangs bei einem Steinmetz unter Marmorklötzen im Lagerschuppen gefunden haben. Was würden Goethe,Lessing, Schinkel, die vielen gelehrten Besucher des alten Rom wohl dazu sagen? Was sagst Du, liebe Eli!
    Übrigens Michelangelo und Tizian, wie später die Kunstkenner Napoleons auf dem Beutezug durch Europa, haben aus verschiedenen Gründen von dem gestreckten Arm, wie er 500 Jahre für richtig und gut galt, nichts gehalten. Von Tizian gezeichnet gibt es eine Karikatur, Laokoon ein Affentheater.
    Dies in Eile, in alter Verbundenheit über die angegebene Adresse Deines netten Opas,
    Deine Erika
     
    Liebe Erika, ich danke Dir für die Ausführungen und die Skizze Laokoon betreffend. Ich bin baff und am Ende Deiner Zeilen wieder am Anfang.
    Dieser Tage war ich oft in Berlin in der wunderbar finsterklotzigen Staatsbibliothek, meiner liebsten labyrinthischen Welt. Ich lese Goethe, jedes Wort über Laokoon und die Kunst im Allgemeinen, gut und schön, aber das bezieht sich ja alles auf den falschen Arm.
     
    Liebe Erika, was mache ich nun? Deine Skizze mit dem neuen, dem echten Arm zeigt, dass Laokoon durch das geschickte Manöver der Schlange, indem das Biest seinen rechten Arm hinter das Genick zerrt, schon bezwungen ist. Du schreibst es ja auch, der Mann ist damit k. o.
    Der Biss in die empfindliche Hüfte ist gar kein Angriff mehr. Die Schlangen haben den Auftrag der Götter bereits mit Ringkämpferkraft erledigt. Die früheren Betrachter, auch ich!, sahen beim Blick auf das Foto mit dem gestreckten Arm an erster Stelle den Biss in die Hüfte. Grausam genug, aber nun ist es anders.
    Liebe Erika, ich wäre Dir sehr dankbar, wenn Du mir weitere Einzelheiten zum echten Arm des Laokoon mitteilenkönntest. Ich will nächstens nach Dresden reisen. Vielleicht gibt es dort im Albertinum in der Antikensammlung einen, mit dem ich darüber reden kann. Unser Kunert glaubt an seine Dia-Kiste und die Wahrheit der Renaissance, da möchte ich erst mal nicht stören.
    Addio amica. Deine Eli
     
    Liebe Erika,
    ich bin umgezogen, in meiner alten Bude wohnt ein Rudel Produktionsstudentinnen vom neuen Jahrgang. Ich hause jetzt ganz oben unter dem Dach, wo früher die Hausmädchenkammer war. Zu deiner Zeit hat da oben eine Einzelgängerin gewohnt, Nüsschen, eine freischaffende Schauspielerin. Sie ist ausgeflogen, weil sie nun ein Engagement in Berlin hat. Ich bin in dieser neuen Bude einigermaßen abgekoppelt von der Teeküche und vom Treppenpalaver um Mitternacht, das immer noch fachübergreifend mindestens dreimal pro Woche unter uns Weibern läuft.
    Vor dem Dachbalkon habe ich wieder drei Pappeln zu meiner Gesellschaft, ich schaue auf die

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