Septimus Heap 01 - Magyk
noch trauriger, als er sah, was geschehen war. Der Jäger war mitten im Sprung mit der Pistole in der Hand erstarrt und stierte ins Leere. Der Lehrling schluckte – eine große Frau in einem weiten Flickenkleid kam zielstrebig auf ihn zu, und von den bebilderten Feindkarten, die er sich vor Beginn der Jagd hatte ansehen müssen, wusste er nur zu gut, wer sie war.
Sie war die verrückte Weiße Hexe, Zelda Zanuba Heap.
Und dort standen der Zaubererjunge Nickolas Benjamin Heap und Nummer 412, der verachtete Ausreißer und Deserteur. Sie waren alle hier, genau wie man es ihm gesagt hatte. Aber wo war die eine, deretwegen sie eigentlich gekommen waren? Wo war die Prinzessin?
Der Lehrling sah sich um und entdeckte Jenna im Schatten hinter Junge 412. In ihrem langen dunklen Haar glänzte ein goldenes Diadem, und ihre Augen waren violett, genau wie auf dem Bild auf der Feindkarte (das Linda Lane, die Spionin, sehr gekonnt gezeichnet hatte). Die Prinzessin war etwas größer, als er erwartet hatte, aber kein Zweifel, sie war es.
Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen, als ihm die Idee kam, sich die Prinzessin ganz allein zu schnappen. Der Meister wäre hoch zufrieden mit ihm. Bestimmt würde er alle seine früheren Patzer vergessen und nicht mehr damit drohen, ihn als Entbehrlichen in die Jungarmee zu stecken. Zumal nicht einmal dem Jäger dieses Kunststück geglückt war.
Er wollte es versuchen.
Obwohl ihn die nassen Kleider behinderten, preschte er zur Überraschung aller Anwesenden vor und packte Jenna. Er war erstaunlich stark für seine Größe. Er nahm sie in den Schwitzkasten, sodass sie kaum noch Luft bekam, und zerrte sie in Richtung Tür.
Tante Zelda machte einen Schritt auf ihn zu, doch er klappte sein Taschenmesser auf und hielt Jenna die Klinge an die Kehle.
»Wenn mich jemand aufhalten will, steche ich zu«, fauchte er. Er schleppte Jenna zur Tür hinaus und den Weg hinunter in Richtung Kanu. Der Magog, der im Kanu wartete, schenkte der Szene nicht die geringste Beachtung. Er war gerade damit beschäftigt, seinen fünfzehnten ertrunkenen Panzerkäfer zu verflüssigen, und seine Arbeit begann erst, wenn die Gefangene im Kanu saß.
Und das war nicht mehr lange hin.
Doch Nicko wollte seine Schwester dem Lehrling nicht kampflos überlassen. Er jagte ihm nach und warf sich auf ihn. Der Lehrling prallte gegen Jenna und ging mit ihr zu Boden. Ein Schrei ertönte. Es rann Blut.
Nicko riss den Lehrling zur Seite.
»Jen!«, stieß er hervor. »Bist du verletzt?«
Jenna sprang auf und starrte auf das Blut auf dem Weg.
»Ich ... ich glaube nicht«, stammelte sie. »Aber er. Ich glaube, er ist verletzt.«
»Geschieht ihm ganz recht«, sagte Nicko und beförderte das Messer mit einem Fußtritt außer Reichweite.
Nicko und Jenna zogen den Lehrling auf die Füße. Er hatte eine Schnittwunde am Arm, sonst schien er unverletzt. Aber er war leichenblass. Der Lehrling konnte kein Blut sehen, schon gar nicht sein eigenes. Er bekam es mit der Angst, als sie ihn zur Hütte zurückschleppten. Was hatten die Zauberer mit ihm vor? Er unternahm einen letzten Fluchtversuch. Er entwand sich Jennas Griff und trat Nicko kräftig gegen das Schienbein.
Ein Kampf entbrannte. Der Lehrling versetzte Nicko einen Faustschlag in den Magen und wollte ihn gerade ein zweites Mal treten, da drehte ihm Nicko den Arm auf den Rücken.
»Lass den Quatsch«, rief Nicko. »Glaub bloß nicht, du kommst ungestraft davon, wenn du versuchst, meine Schwester zu entführen, du Schwein.«
»Er wäre nie entkommen«, spottete Jenna. »Er ist zu dumm.«
Der Lehrling konnte es auf den Tod nicht ausstehen, wenn ihn jemand dumm nannte. Sein Meister nannte ihn immer so. Dummkopf. Spatzenhirn. Trottel. Das konnte er nicht ausstehen.
»Ich bin nicht dumm.« Er sog hörbar Luft ein, als Nicko seinen Griff anzog. »Ich kann alles tun, was ich will. Ich hätte sie erschießen können, wenn ich gewollt hätte. Sie wäre heute Nacht nicht die Erste gewesen. Damit ihr’s wisst.«
Schon in der nächsten Sekunde bereute der Lehrling seine Worte. Vier Augenpaare starrten ihn vorwurfsvoll an.
»Was meinst du damit?«, fragte Tante Zelda ganz ruhig. »Sie wäre nicht die Erste gewesen?«
Der Lehrling beschloss, nicht klein beizugeben.
»Das geht euch nichts an. Ich kann schießen, wann ich will. Und wenn ich auf eine fette Pelzkugel schießen will, die mir bei einem offiziellen Auftrag in die Quere kommt, dann tu ich es auch.«
Entsetztes Schweigen
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