Septimus Heap 01 - Magyk
lebendige, sehende Augen. Jenna ließ den Hals des Drachen los und wich vor ihm zurück. Die Augen des Drachen folgten ihren Bewegungen und ruhten lange auf der neuen Königin. Es ist eine junge, dachte der Drache, aber das schadet nichts. Er neigte respektvoll den Kopf.
Vom Heck aus sah Junge 412, wie der Drache den Kopf senkte, und er wusste genau, dass er es sich nicht nur einbildete. Auch das Plätschern, das er hörte, war keine Einbildung.
»Seht doch!«, schrie Nicko.
Ein schmaler dunkler Riss zeigte sich in der Wand zwischen den beiden Marmorsäulen, die das Dach stützten. Ein Rinnsal sickerte daraus hervor, als ob ein Schleusentor geöffnet worden sei. Der Riss wurde immer breiter, und das Rinnsal schwoll zu einem Bach an. Bald stand der Mosaikfußboden des Tempels unter Wasser, und der Bach wurde zum reißenden Strom.
Unter lautem Getöse gab der Erdwall draußen nach, und die Mauer zwischen den Säulen stürzte ein. Braune Fluten ergossen sich in die Höhle, brodelten rings um das Drachenboot, hoben es in die Höhe und warfen es hin und her, bis es plötzlich schwamm.
»Es schwimmt!«, schrie Nicko aufgeregt.
Jenna blickte vom Bug in das schlammige Wasser, das unter ihnen wirbelte, und beobachtete, wie die schmale Holzleiter umfiel und fortgespült wurde. Weit über sich spürte sie eine Bewegung. Langsam und mühsam, den Hals ganz steif von all den Jahren des Wartens, drehte der Drache den Kopf nach hinten, um zu sehen, wer am Ruder stand. Er heftete seinen dunkelgrünen Augen auf den neuen Kapitän, eine überraschend kleine Gestalt mit rotem Hut. Er hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mit Hotep-Ra, seinem letzten Kapitän, der ein großer, dunkler Mann gewesen war, mit einem Gürtel aus Gold und Platin, der stets im Sonnenlicht geglänzt, und einem lila Umhang, der stets im Wind geflattert hatte, wenn sie zusammen über den Ozean segelten. Doch das Allerwichtigste erkannte der Drache: Die Hand, die das Steuer hielt, war eine magische Hand.
Es war so weit. Sie stachen wieder in See.
Der Drache hob den Kopf, und die beiden mächtigen ledernen Flügel, die zusammengefaltet an den Längsseiten des Boots lagen, lockerten sich.
Maxie knurrte und sträubte das Nackenfell.
Das Boot setzte sich in Bewegung.
»Was tust du denn?«, schrie Jenna Junge 412 an.
Junge 412 schüttelte den Kopf. Er tat überhaupt nichts. Das Boot war schuld. »Lass los!«, schrie Jenna gegen das Heulen des Sturms draußen an. »Lass das Ruder los! Das geschieht deinetwegen. Lass los!«
Aber Junge 412 konnte nicht loslassen. Etwas hielt seine Hand an der Pinne fest und steuerte das Boot mit seiner neuen Besatzung – Jenna, Nicko, Maxie und ihm – zwischen den beiden Marmorsäulen hindurch.
Kaum war der mit Stacheln bewehrte Schwanz des Drachen vom Tempel freigekommen, ertönte von beiden Seiten des Boots ein lautes Knarren. Der Drache hob die Flügel und entfaltete jeden wie eine riesige, mit Schwimmhäuten versehene Hand, indem er die langen knochigen Finger streckte und knackend und knirschend die Lederhaut straffte. Die Besatzung starrte in den Nachthimmel, verblüfft über den Anblick der mächtigen Flügel, die wie zwei gigantische grüne Segel das Boot überragten.
Der Kopf des Drachen reckte sich in die Nacht, seine Nüstern blähten sich und sogen den Geruch ein, von dem er all die Jahre geträumt hatte. Den Geruch des Meeres.
Endlich frei.
* 44 *
44. Auf See
» D u musst in die Wellen hineinsteuern!«, rief Nicko, als ein Brecher seitlich gegen das Boot klatschte, über ihnen zusammenschlug und sie mit eiskaltem Wasser übergoss. Mit aller Kraft versuchte Junge 412, das Ruder gegen den Druck von Wind und Wellen herumzuwerfen. Der Sturm heulte in seinen Ohren, und der Regen, der ihm ins Gesicht peitschte, war auch nicht gerade hilfreich. Nicko stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen das Ruder, und gemeinsam drückten sie es von sich weg. Der Drache spannte die Flügel, um den Wind einzufangen, und der Bug schwang langsam herum und drehte in die herannahenden Wellen.
Vorn im Bug klammerte sich Jenna, vom Regen durchnässt, am Hals des Drachen fest. Das Boot hob und senkte sich bei seinem Ritt über die Wogen und warf sie unablässig hin und her.
Der Drache reckte den Kopf, hielt die Nase in den Sturm und genoss jede Sekunde. Es war der Beginn einer Reise, und ein Sturm am Beginn einer Reise war immer ein gutes Vorzeichen. Aber wohin sollte die Reise gehen? Er drehte den langen grünen Hals und
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