Septimus Heap 01 - Magyk
genommen hatte. Sie schritt so ausladend dahin, dass Jenna rennen musste, um mit ihr Schritt zu halten. Zum Glück trug Jenna nur einen kleinen Rucksack mit ein paar Schätzen bei sich, die sie an zu Hause erinnerten. Nur leider hatte sie in der Eile ihr Geburtstagsgeschenk vergessen.
Der Vormittag war mittlerweile weit fortgeschritten, und es herrschte kein Berufsverkehr mehr. Zu Marcias großer Erleichterung waren die feuchten Gänge, durch die sie mit Jenna huschte, nahezu menschenleer, und von ihren früheren Ausflügen zum Zaubererturm wusste sie noch genau, welche Abzweigungen sie nehmen musste.
Jenna konnte unter dem dicken Umhang nur sehr wenig sehen, und so heftete sie ihren Blick auf die beiden Fußpaare unter ihr, auf ihre eigenen kleinen Füße in den schmuddeligen Stiefeln und auf Marcias lange spitze Füße, die in ihrem lila Pythonleder über die grauen Steinplatten schritten. Bald achtete sie überhaupt nicht mehr auf ihre eigenen Stiefel, sondern beobachtete nur noch gebannt, wie die spitzen lila Pythons vor ihr durch die kilometerlangen, nicht enden wollenden Gänge tanzten, links rechts, links rechts, links rechts.
So eilte das seltsame Paar unbemerkt durch die Burg. Vorbei an den schweren raunenden Türen, hinter denen sich die Werkstätten verbargen und die Bewohner der Nordseite Tag für Tag viele Stunden damit zubrachten, Stiefel, Kleider, Boote, Betten, Sättel, Kerzen und Seile herzustellen, Bier zu brauen, Brot zu backen und neuerdings auch Gewehre, Uniformen und Ketten zu fertigen. Vorbei an den kalten Klassenzimmern, in denen gelangweilte Kinder ihre Dreizehnerreihen herunterleierten, und vorbei an den leeren, widerhallenden Lagerräumen, aus denen die Wächterarmee unlängst für ihren Eigenbedarf nahezu alle Wintervorräte fortgeschafft hatte.
Schließlich trat Marcia in den schmalen Torweg, der in den Hof des Zaubererturms führte. Jenna hielt in der kalten Luft den Atem an und spähte unter dem Umhang hervor.
Sie erschrak.
Vor ihr ragte der Zaubererturm empor, so hoch, dass die goldene Pyramide, die ihn bekrönte, halb in einer tief hängenden Wolke verschwand. Das Silber des Turms glitzerte in der Wintersonne so grell, dass ihr die Augen schmerzten. Die lila Glasscheiben in den vielen hundert kleinen Fenstern glänzten geheimnisvoll dunkel, warfen das Licht zurück und hüteten die dort verborgenen Geheimnisse. Blauer Dunst schimmerte rings um den Turm und ließ seine Ränder verschwimmen, sodass nicht zu erkennen war, wo der Turm aufhörte und der Himmel anfing. Auch die Luft war anders. Sie roch merkwürdig süß nach Magie und altem Weihrauch. Und wie Jenna so dastand, zu keinem Schritt mehr fähig, spürte sie um sich herum die Echos alter Zauberformeln und Beschwörungen, auch wenn sie zu leise waren, um gehört zu werden.
Zum ersten Mal, seit sie von zu Hause fort war, bekam sie Angst.
Marcia nahm sie beruhigend in den Arm, denn sie wusste noch, wie es war, wenn man den Turm zum ersten Mal sah. Schrecklich.
»Komm weiter, wir sind gleich da«, murmelte sie aufmunternd, und zusammen schlitterten und rutschten sie über den verschneiten Hof zu der großen Marmortreppe, die zu dem silbrig schimmernden Eingang hinaufführte. Marcia war so damit beschäftigt, das Gleichgewicht zu halten, dass ihr erst am Fuß der Treppe auffiel, dass gar keine Wache mehr da war. Verwirrt sah sie auf ihre Uhr. Wachwechsel war eigentlich erst in fünfzehn Minuten. Wo steckte der junge Schneeballwerfer, den sie heute Morgen gescholten hatte?
Sie schaute sich um. Hier stimmte etwas nicht. Der Wächter war nicht da. Und doch war er noch da. Er war, wie sie jäh erkannte, zwischen dem Hier und dem Nichthier.
Er war dem Tode nahe.
Unvermittelt sprang Marcia zu einem kleinen Schneehaufen neben dem Torweg, sodass Jenna unter dem Umhang hervorpurzelte.
»Grab!«, zischte Marcia und buddelte im Schnee. »Er ist hier. Erfroren.«
Unter dem Haufen lag der schmächtige weiße Körper des Wächters. Er hatte sich zu einer Kugel zusammengerollt, und seine dünne Baumwolluniform war vom Schnee durchnässt und klebte an ihm. Die bunten Farben der merkwürdigen Uniform wirkten knallig im kalten Licht der Wintersonne. Jenna schauderte beim Anblick des Jungen, aber nicht weil sie fror, sondern weil ihr eine ferne, sprachlose Erinnerung durch den Kopf geschossen war.
Marcia wischte dem Jungen vorsichtig den Schnee von den blauen Lippen. Gleichzeitig legte ihm Jenna die Hand auf seinen spindeldürren weißen
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