Septimus Heap 01 - Magyk
Decke auf die Stufe vor der Tür. Ihr warmer Atem bildete weiße Wolken in der kalten Morgenluft. Dichter Nebel lag über dem Moor, schmiegte sich an die Erde, wirbelte über dem Wasser und um eine kleine Holzbrücke, die über einen breiten Kanal führte. Der Kanal war randvoll mit Wasser. Er hieß Mott und umschloss Tante Zeldas Insel wie ein Burggraben. Das Wasser war dunkel und an der Oberfläche ganz glatt, als sei eine dünne Haut darüber gespannt. Doch beim genauen Hinsehen erkannte Jenna, dass es über die Ufer schwappte und auf die Insel strömte.
Seit Jahren beobachtete Jenna das Auf und Ab der Gezeiten. Daher wusste sie, dass sie nach dem Vollmond letzte Nacht heute Morgen Springflut hatten. Das Wasser würde bald wieder zurückgehen, so wie es auch im Fluss vor ihrem kleinen Fenster zu Hause immer zurückging, bis es so niedrig war, dass die Wasservögel mit ihren langen krummen Schnäbeln im zurückbleibenden Sand und Schlamm stochern konnten.
Die fahle weiße Scheibe der Wintersonne stieg langsam durch den dichten Nebel herauf, und die Stille wich dem Frühkonzert der erwachenden Tiere. Ein aufgeregtes Gackern ließ Jenna zusammenzucken und in die Richtung blicken, aus der es kam. Zu ihrem Erstaunen tauchten die Umrisse eines Fischerboots aus dem Nebel auf.
Jenna hatte in den letzten vierundzwanzig Stunden mehr neue und merkwürdige Dinge gesehen, als sie jemals im Traum für möglich gehalten hätte. Deshalb war ein Fischerboot, dessen Besatzung aus Hühnern bestand, für sie nicht die große Überraschung, die es wohl sonst gewesen wäre. Sie setzte sich einfach wieder auf die Türstufe und wartete darauf, dass das Boot vorbeifuhr. Minuten vergingen, doch es kam überhaupt nicht näher, und Jenna fragte sich, ob es auf Grund gelaufen war. Abermals ein paar Minuten später, als der Nebel noch lichter geworden war, begriff sie: Das Fischerboot war ein Hühnerstall. Ein Dutzend Hennen staksten vorsichtig das Fallreep herunter und begannen ihr Tagwerk. Scharren und picken, scharren und picken.
Die Dinge sind nicht immer, was sie scheinen, dachte Jenna.
Der Schrei eines Vogels schrillte durch den Nebel, und vom Wasser kam ein gedämpftes Plätschern, das nach einem kleinen Tier klang. Hoffentlich ein Pelztier, dachte Jenna. Aber vielleicht war es auch eine Wasserschlange oder ein Aal. Sie beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken, lehnte sich gegen den Türrahmen und sog die frische, leicht salzige Luft der Marschen ein. Es war herrlich hier. So friedlich und ruhig.
»Hu!«, machte Nicko. »Hab ich dich drangekriegt, Jen!«
»Pst, Nicko«, protestierte Jenna. »Mach nicht solchen Lärm.«
Nicko setzte sich neben sie auf die Türstufe, grapschte sich einen Zipfel ihrer Decke und wickelte sich ein.
»Bitte«, sagte Jenna.
»Was?«
»Könnte ich bitte ein Stück von deiner Decke haben, Jenna? Aber gern, Nicko. Oh, vielen Dank, Jenna, das ist sehr freundlich von dir. Nicht der Rede wert, Nicko.«
»Nicht der Rede wert? Na, dann Schwamm drüber«, sagte Nicko. »Und vermutlich muss ich jetzt einen Hofknicks vor dir machen, wo du eine Hochwohlgeboren bist.«
»Jungen machen keinen Knicks«, lachte Jenna. »Du musst einen Diener machen.«
Nicko sprang auf, lüftete mit schwungvoller Geste einen nicht vorhandenen Hut und verbeugte sich übertrieben tief.
Jenna klatschte. »Prima. Das darfst du jetzt jeden Morgen machen.« Sie lachte.
»Vielen Dank, Eure Majestät«, sagte Nicko ernst und setzte den nicht vorhandenen Hut wieder auf.
»Ich frage mich, wo der Boggart steckt«, sagte Jenna schläfrig.
Nicko gähnte. »Wahrscheinlich irgendwo auf dem Boden eines Schlammlochs. Ich glaube nicht, dass er in einem Bett liegt.«
Jenna lachte. »Das wäre ihm bestimmt ein Gräuel. Zu trocken und zu sauber.«
»Also, ich gehe wieder ins Bett«, sagte Nicko. »Im Gegensatz zu dir brauche ich mehr als zwei Stunden Schlaf.« Er wickelte sich aus Jennas Decke und schlurfte zurück zu seiner eigenen, die als zerknüllter Haufen vor dem Kamin lag. Auch Jenna war noch sehr müde. Sie spürte an ihren Augenlidern dieses Kribbeln, das sie immer bekam, wenn sie nicht genug geschlafen hatte. Außerdem wurde ihr langsam kalt. Sie stand auf, raffte die Decke zusammen, schlüpfte zurück ins Halbdunkel der Hütte und schloss ganz leise die Tür hinter sich.
* 19 *
19. Tante Zelda
» G u ten Morgen allerseits«, rief Tante Zelda mit vergnügter Stimme den Schläfern unter dem Haufen Decken vor dem Kamin
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