Septimus Heap 02 - Flyte
hinaus in die sonnenüberfluteten Straßen der Burg. Sie erklomm die schmale Treppe, die zu dem Sims auf der Innenseite der Ringmauer hinaufführte, und schlug die Richtung zum Wachturm am Osttor ein. Dies war ihre letzte Chance, dachte sie, als sie auf dem breiten Sims entlanglief, ohne auf die schwindelerregende Tiefe auf der einen Seite zu achten. Der trockene Stein des Simses war ausgetreten und glatt, und ein- oder zweimal wäre sie beinahe ausgerutscht und abgestürzt. Nicht so hastig, sagte sie sich, dem Drachenboot ist nicht geholfen, wenn du dir den Hals brichst.
Die Ringmauer lief im Zickzack um die einander verschachtelten Häuser herum. Jenna hielt die Augen fest auf den Wachturm gerichtet, der sich in einiger Entfernung über der Mauer erhob und zum Wald hin blickte. Sie lief in gleichmäßigem Tempo, und bald stand sie erhitzt und aufgeregt am Fuß des Turms und schnappte nach Luft.
Sie brauchte eine Weile, um wieder zu Atem zu kommen, und sog den Gestank mehrerer überfüllter Mülltonnen ein, die aufgereiht neben der kleinen Holztür standen, die in den Turm führte.
Ein verblasstes Schild hing an der Tür:
KUNDENSCHALTER
BOTENRATTENDIENST
AMTLICH GEPRÜFTE, ZUVERLÄSSIGE LANGSTRECKENRATTEN
ZU MIETEN DURCHGEHEND GEÖFFNET.
Unter diesem Schild hing ein viel neueres Schild:
GESCHLOSSEN
Jenna ließ sich davon nicht abschrecken. Sie drückte gegen die Holztür – und stürzte fast in einen düsteren kleinen Raum.
»Können Sie nicht lesen?«, empfing sie eine mürrische Stimme aus dem Halbdunkel.
»Auf dem Schild steht DURCHGEHEND GEÖFFNET«, erwiderte Jenna.
»Und auf dem anderen Schild steht GESCHLOSSEN«, meckerte die Stimme. »Und das gilt. Kommen Sie morgen wieder. Und jetzt entschuldigen Sie mich. Ich wollte gerade abschließen.«
»Das ist mir gleich«, sagte Jenna. »Ich möchte eine Botenratte, und zwar sofort. Es ist dringend. Es geht um Leben und Tod.«
»Ach, das sagen alle«, erwiderte die Ratte verächtlich, ergriff eine Aktenmappe und wandte sich zum Gehen. Jenna versperrte ihr, einem schon etwas älteren und wohlbeleibten braunen Exemplar, den Weg zur Tür. Die Ratte schaute auf und erkannte erst jetzt, mit wem sie gesprochen hatte. »Oh«, entfuhr es ihr. »Ich ... äh ... ich wusste nicht, dass Sie es sind, Majestät. Bitte vielmals um Vergebung.«
»Macht nichts. Wenn Sie nur eine Nachricht überbringen.« Da Jenna nach wie vor die Tür versperrte, kehrte die Ratte an den Schreibtisch zurück, öffnete die Aktenmappe, sah eine Namensliste durch und schüttelte schließlich den Kopf.
»Euer Majestät«, sagte sie bedauernd, »ich würde nichts lieber tun, aber momentan ist leider keine Botenratte frei. Deshalb haben wir auch geschlossen. Ich könnte Ihnen frühestens morgen Vormittag eine besorgen ...«
»Morgen früh ist es zu spät«, unterbrach Jenna.
Die Ratte blickte besorgt. »Es tut mir leid, Euer Majestät. Wir haben schwierige Wochen hinter uns. Die Seuche, die unten am Abwasserkanal grassiert, hat einige meiner besten Nachwuchskräfte dahingerafft, und die Hälfte meiner Mitarbeiter hat Urlaub genommen. Außerdem sind momentan so viele Langstreckenratten im Einsatz, dass ich den Überblick verloren habe ...«
»Dann möchte ich eine Geheimratte«, sagte Jenna. »Ist Stanley frei?«
Die Ratte sah sie mit gespieltem Unverständnis an. »Geheimratte?«, fragte sie. »Tut mir sehr leid, aber damit kann ich nicht dienen.«
»Lassen Sie die Albernheiten«, fuhr Jenna die Ratte zornig an. »Und ob Sie können. Ich muss es wohl wissen.«
Die Ratte blieb stur. »Ich weiß wirklich nicht, wovon Sie sprechen. Außerdem muss ich jetzt los, Euer Majestät. Ich könnte Ihnen morgen in aller Frühe eine Botenratte in den Palast schicken, wenn Ihnen damit geholfen ist.«
Jenna riss der Geduldsfaden. »Hören Sie«, sagte sie streng, »ich möchte eine Geheimratte, und zwar sofort. Das ist ein Befehl. Und wenn ich keine bekomme, hat es den Rattengeheimdienst die längste Zeit gegeben. Vom Botenrattendienst ganz zu schweigen. Ist das klar?«
Die Ratte schluckte und raschelte in ihren Papieren. »Ich ... ich muss nur eben einen kurzen Ruf tätigen ...«, sagte sie, lehnte sich aus einem kleinen Fenster neben dem Schreibtisch und brüllte: »Stanley! He, Stanley! Beweg deine müden Knochen her. Aber dalli!«
Augenblicke später erschien Stanley am Fenster. »Nur keine Aufregung, Humphrey. Wo brennt’s denn?«, sagte er, und als er Jenna erblickte: »Oh!«
»Dein Typ
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