Septimus Heap 03 - Physic
dann trat ihr jemand auf den Zeh – und schrie. Sehr laut.
»Aua! Broda, Broda! Mama ist im Schrank. Sie ist durchkommen. Broooooda!«
Mit einem Knall flog die Schranktür auf, und ein Mädchen stürzte, immer noch schreiend, hinaus. Mit klingenden Ohren und klopfendem Herzen spähte Jenna aus dem Schrank, und was sie sah, war eigenartig: Das Mädchen, das ihre Zwillingsschwester hätte sein können, lief zu einer sehr schönen jungen Frau mit langem dunklem Lockenhaar und leuchtenden hexenblauen Augen.
»Na, na, Esmeralda«, beruhigte die junge Frau sie und strich ihr sanft übers Haar, »höret auf zu schreien. Ihr seyd in Sicherheit. Eure Mama wird es nicht wagen, den Weg zu nehmen. Eure Großmama wird’s ihr verbieten, wie Ihr wisst. Sch... Na bitte. Oh!« Broda Pye stockte der Atem, als sie sah, dass noch eine Esmeralda aus dem Schrank für Unbeständige Tränke und Spezialgifte trat.
»Äh ... guten Tag«, grüßte Jenna unsicher.
Esmeralda starrte Jenna an, und Jenna erwiderte ihr Starren – es war, als ob sie in einen Spiegel blickten und ihr eigenes Spiegelbild sahen. Sie waren gleich groß, ihr braunes Haar hatte dieselbe Länge, und sie trugen beide das gleiche goldene Diadem. Auf einmal brach Esmeralda in Schluchzen aus. »Meine Zeit ist kommen. Ich seh meine Doppelgängerin. Alles ist verloren ... huuuuuuuuuuu!«
»Schluss, Esmeralda!«, sagte Broda Pye, schon strenger. »Nie und nimmer ist das Eure Doppelgängerin – seht doch die Stiefel, Esmeralda.«
Esmeralda starrte auf Jennas braune Stiefel, rümpfte die Nase und zog ein missbilligendes Gesicht, das bewies, dass sie die Tochter ihrer Mutter war. »Hässliche braune Stiefel sind’s, weiter nichts«, sagte sie, als wäre Jenna überhaupt nicht vorhanden.
Jenna schaute hinab auf ihre Stiefel. Sie mochte ihre Stiefel, und sie fand, dass Esmeralda überhaupt keinen Grund hatte, so groß zu reden, wenn man sich die albernen Schuhe ansah, die sie selbst anhatte: glänzende rote Dinger, die so lange Spitzen hatten, dass zwei Bänder an den Enden befestigt und um Esmeraldas Fußknöchel gebunden waren, damit sie nicht darüber stolperte.
»Wer seyd Ihr?«, fragte Broda und riss Jenna aus ihren Betrachtungen zu Esmeraldas Schuhen.
»Ich heiße Jenna.«
»Nach Eurem goldenen Diadem und roten Gewand zu urteilen, seyd Ihr eine Prinzessin, trotz Eurer Stiefel«, sagte Broda. »Aber wie kann das seyn?«
»Ich bin eine Prinzessin«, erwiderte Jenna ärgerlich. »Und in meiner Zeit tragen wir eben Stiefel.«
Broda Pye war es gewohnt, dass in ihrer Hütte merkwürdige Dinge geschahen, denn die Marram-Marschen waren damals noch wilder als in Jennas Zeit. Alle möglichen Geister und Erscheinungen gingen dort um, und bisweilen kamen sie auch in die Hüterhütte. Broda nahm an, dass Jenna eine von ihnen war – der Geist einer längst toten Prinzessin, der durch die Marschen streifte und möglicherweise das Drachenboot suchte. Broda sah ihr an, dass sie zu den körperlicheren Geistern gehörte, die leicht in Zorn gerieten, und hielt es für ratsamer, sie mit einer Einladung zu Speis und Trank versöhnlich zu stimmen.
Sie verschwand in der Küche und ließ Esmeralda und Jenna allein. Eine Zeitlang herrschte betretenes Schweigen, dann sagte Esmeralda, die als praktisch denkender Mensch zu der Überzeugung gelangt war, dass Jenna für einen Geist viel zu kräftig aussah: »Bist du wahrhaftig eine Prinzessin?«
Jenna nickte.
Esmeralda wusste ein wenig über die Experimente ihres Bruders Marcellus. »Kömmst du aus einer Zeit, die erst noch kömmt?«, fragte sie.
Jenna nickte wieder.
Esmeralda dachte angestrengt nach. »Sag mir ... ist Mama Königin in dieser Zeit, die erst noch kömmt?«, fragte sie.
Jenna schüttelte den Kopf. »Sie war es jedenfalls nicht, als ich wegging«, sagte sie. »Aber letzten Monat ist plötzlich ihr Geist erschienen. Jetzt fürchte ich, dass sie Königin wird, wenn ich nicht zurückkehre.«
»So musst du zurückkehren«, sagte Esmeralda, als sei die Sache damit beschlossen. »Sieh, Broda bringt ihre Bonbons – du darfst dich geehret fühlen.«
Broda kam zurück, in den Händen ein Tablett. Darauf standen hohe Gläser, die eine dampfende, trübe Flüssigkeit enthielten, und ein goldener Teller mit köstlich aussehenden grünen und rosaroten Weichbonbons, die mit Zucker bestäubt waren. Sie bot Jenna von den Bonbons an, und Jenna nahm ein rosarotes. Dergleichen hatte sie noch nie gegessen – es war weich und zäh
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