Septimus Heap 03 - Physic
auf dem Sitz eine böse Überraschung lauern, sank sie auf den üppig vergoldeten Stuhl, der mit dunkelrotem Samt gepolstert und über und über mit Edelsteinen besetzt war. Der Aie-Aie kroch unter den Thron, wickelte seinen Schwanz um ein geschnitztes Stuhlbein, beobachtete die leckeren Waden, die vorbeikamen, und ließ dabei seinen Zahn vor- und zurückschnappen. Die veilchenblauen Augen der Königin blickten kalt und verkniffen zu der großen Tür am Ende des Ballsaals, die noch geschlossen war, obwohl der Stimmenlärm dahinter stetig anschwoll. Jenna warf erneut einen unauffälligen Blick auf Etheldredda. Die Königin sah ihrem Geist erstaunlich ähnlich: dieselben stahlgrauen Zöpfe, die wie Schnecken über die Ohren gelegt waren, und dieselbe spitze Nase, mit der sie auf die vertraute, missbilligende Art in der Luft schnupperte. Der einzige Unterschied war, dass die lebende Etheldredda nach alten Socken und Mottenkugeln roch. Plötzlich schrillte die unvergessliche Stimme: »Lasset den Pöbel herein!«
Zwei kleine Jungen, die Türpagen des Abends, die schon längst im Bett sein müssten, rannten los, drückten die goldenen Klinken und öffneten gleichzeitig die beiden Türflügel, so wie sie es unter den gestrengen Augen des Königlichen Türhüters in den vergangenen vier Stunden geübt hatten.
Eine äußerst ausgefallene und elegant herausgeputzte Schar von Menschen strömte, immer zwei und zwei, in den Saal, und jeder hielt einen Teller in der Hand. Sowie ein Paar durch die Tür kam, richtete es die Augen auf die zurückgekehrte Prinzessin, und obwohl es Jenna von ihren Spaziergängen in der Burg in ihrer Zeit gewöhnt war, angestarrt zu werden, wurde sie immer verlegener. Sie lief knallrot an und fragte sich ununterbrochen, ob jemand merken würde, dass sie gar nicht Esmeralda war.
Doch niemand merkte es. Ein paar Leute fanden, dass Esmeralda viel gesünder aussah und einen glücklicheren Eindruck machte, was insofern nicht überraschte, als sie längere Zeit von ihrer Mutter getrennt gewesen war. Ihr Gesicht wirkte nicht mehr so abgespannt, und der sorgenvolle Blick war verschwunden. Außerdem war sie fülliger geworden und machte nicht mehr den Eindruck, als könnte sie ein, zwei kräftige Mahlzeiten mehr vertragen.
Dafür dass die Einladungen so kurzfristig verschickt worden waren, hatte Königin Etheldredda eine eindrucksvolle Gästeschar zusammenbekommen. Alle trugen ihre allerbesten Kleider. Die einfachen Leute hatten ihre Hochzeitsanzüge und -kleider angezogen, und die Gebildeteren, insbesondere die Gewöhnlichen Zauberer und die Alchimisten, ihre mit Pelz besetzten und mit bunten Seidenstickereien geschmückten Festgewänder. Die Höflinge und Hofbeamten stolzierten, die Nasen hochmütig in die Luft gestreckt, in ihren Amtsroben durch die Ballsaaltür. Sie waren aus dunkelgrauem, rot eingefasstem Samt geschneidert und mit langen goldenen Bändern geschmückt, die von den Ärmeln hingen und deren Zahl und Länge von der Stellung des Beamten abhing. Die Bänder an den Roben der wichtigen Beamten reichten bis zum Boden, und die Bänder an den Roben der hochwichtigen Beamten schleiften am Boden, sodass häufig – versehentlich absichtlich – darauf getreten wurde. Nicht selten sah man ein langes goldenes Band einsam in den Palastkorridoren liegen, und so mancher Beamte hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, Ersatzbänder bei sich zu tragen, denn die Zahl der Bänder an den Ärmeln war von kolossaler Bedeutung, und für einen Fünf-Bänder-Beamten ging es einfach nicht an, nur mit vieren oder – Gott bewahre! – dreien gesehen zu werden.
Jenna sah zu, wie die festlich gekleideten Gäste hereinströmten und ihre Plätze an den drei Tafeln suchten, die sich über die ganze Länge des Saals erstreckten. Nach langem und aufgeregtem Hin und Her, bei dem auf etliche Bänder getreten wurde, saßen schließlich alle an ihrem Platz. Ein kleiner Page wurde vom Truchsess aufs Podium geschubst. Der Junge rannte aufgeregt zur Mitte, stellte sich auf seinen Platz vor der Königin und läutete eine Tischglocke. Das Bimmeln sorgte augenblicklich für Ruhe. Alle stellten mitten im Satz ihr Geplauder ein und blickten erwartungsvoll zu Königin Etheldredda.
»Willkommen zu diesem Festmahl«, tönte Etheldreddas Stimme durch den Saal wie das Kratzen von Fingernägeln auf einer Tafel. Einige Gäste zuckten zusammen, andere fuhren sich mit den Fingernägeln über die Schneidezähne, um das unangenehme Gefühl
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