Septimus Heap 03 - Physic
erhob sich Marcellus, fasste in den Großen Schornstein, umklammerte eine Sprosse und setzte den Fuß auf die Eisenleiter, die mit Bolzen an den alten Backsteinwänden befestigt war. Dann machte sich der Letzte Alchimist wie ein missgestalteter Affe an den langen Aufstieg durch das Innere des Schornsteins.
Er brauchte länger als erwartet bis zur Spitze. Mehr als eine Stunde war verstrichen, als er sich, müde und erschöpft, auf den breiten Sims zog, der ganz oben um den Schlot herumlief. Er setzte sich hin, ganz bleich im Gesicht, schloss die Augen und rang nach Atem. Hoffentlich hatte er sich nicht verspätet. Sonst geriet seine Mutter in Zorn. Nach ein paar Minuten zwang er sich, die Augen zu öffnen. Er bereute es sofort. Das schwache Kerzenlicht tief unten am Fuß des Schornsteins machte ihn schwindlig, und bei dem Gedanken, so weit heraufgeklettert zu sein, wurde ihm übel. Er fröstelte in dem feuchten Wind und zog die Füße unter den Umhang. Seine wunden alten Zehen fühlten sich wie Eisblöcke an. Vielleicht, so dachte Marcellus, waren sie wirklich Eisblöcke.
In diesem Augenblick vernahm er Stimmen, junge Stimmen, und sie hallten durch die Wand des Schornsteins. Quietschend wie ein rostiges Gartentor erhob sich der Alchimist und schlurfte zu einem Schatten an der Wand, der auf den ersten Blick wie ein dunkles Fenster aussah. Doch es war kein Fenster, sondern ein Spiegel, der wie ein tiefer Teich war, mit dem dunkelsten Wasser, das man sich vorstellen kann. Marcellus zog eine große goldene Scheibe unter seinen zerlumpten Kleidern hervor und hielt sie an eine Vertiefung oben am Spiegel. Dann spähte er in das Dunkel des Spiegels – es war der allererste, den er gebaut hatte –, und einen Moment lang blickte er verdutzt. Wie im Traum hob er die linke Hand und runzelte dann die Stirn. Nach einer Weile streckte er die Zunge heraus, und dann schlug er zu.
Mit einer Schnelligkeit, die seine alten Knochen verblüffte, stürzte er zum Spiegel, stieß die Arme durch ihn durch und packte zu. Er fluchte – er hatte daneben gegriffen. Daneben! Der Junge – wie war noch mal sein Name? – war ihm entwischt. Mit letzter Kraft stieß er tiefer in den Spiegel hinein, und zu seiner Erleichterung bekam er den Kittel des Jungen zu fassen. Der Rest war ein Kinderspiel: Er krallte seine Finger um den Lehrlingsgürtel, wobei ihm die krummen Nägel sehr zustatten kamen, und zog. Der Junge wehrte sich, aber damit hatte er gerechnet. Womit er nicht gerechnet hatte, war das plötzliche Auftauchen Esmeraldas. Sein altes Gehirn spielte ihm neuerdings grausame Streiche. Dennoch zog er mit aller Macht, denn es ging für ihn um Leben oder Tod, und plötzlich hatte Esmeralda die Stiefel des Jungen in der Hand, und Septimus Heap – so hieß er – purzelte aus dem Spiegel.
* 15 *
15. Der Altweg
S e ptimus kämpfte auf der anderen Seite weiter. Er versetzte dem Alchimisten drei Fausthiebe und zahlreiche Tritte, die ohne seine Stiefel zwar wenig bewirkten, ihm selbst aber eine gewisse Befriedigung verschafften. Er wand sich, schlug um sich, und irgendwann entschlüpfte er dem knöchernen Griff des anderen und wollte zurück in den Spiegel flitzen, prallte aber von ihm ab wie von einer Mauer aus Stein.
»Vorsicht, Septimus!«, rief Marcellus Pye, packte ihn wieder am Kittel und zog ihn fort. »Du tust dir noch weh.«
»Lassen Sie mich los!«, schrie Septimus, drehte und wand sich verzweifelt.
Aber Marcellus hielt ihn fest. »So hör doch, Septimus. Hier oben musst du vorsichtig sein. Es geht nämlich sehr tief hinab. Oder willst du abstürzen?«
Beim Klang seines Namens hielt Septimus inne. »Woher wissen Sie, wer ich bin?«, fragte er.
Marcellus lächelte – froh, dass er sich wieder erinnerte. »Wir haben einen langen Abstieg vor uns, Lehrling«, sagte er.
Septimus wusste nicht, was er von all dem halten sollte, aber das Lächeln des alten Mannes beruhigte ihn ein wenig. Er verharrte einen Augenblick regungslos und überdachte seine Lage. Er befand sich, soweit er es beurteilen konnte, in einer dunklen Höhle bei einem sehr alten Mann. Es hätte schlimmer kommen können. Aber auch besser. Zum Beispiel hätte er gern seine Stiefel wieder gehabt. Und dann ertastete er mit dem rechten Fuß den Rand des Simses, und da begriff er, dass es viel besser hätte kommen können.
»Wie hoch sind wir denn hier?«, fragte Septimus, den das vertraute Schwindelgefühl überkam, als er mit den Zehen die Kante erkundete.
»Das vermag
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