Septimus Heap 06 - Darke
niemand.
Oben in dem Zimmer hinter der großen roten Tür stritten zwei Menschen, die eigentlich klüger hätten sein müssen, darüber, wer als Nächstes hinausklettern sollte. Sarah ließ den Blick durch das Zimmer schweifen, das sie so liebte – und das auch Silas liebte, wie sie jetzt wusste. Sie zögerte. Da beeindruckte es sie auch nicht, dass Benjamin Heaps rot lackierte Tür vor ihren Augen langsam schwarz wurde, als wüte auf der anderen Seite ein Feuer. Oder dass die schwarzen Nebelschwaden im Zimmer hingen wie dunkle Wolken, die ein schweres Unwetter ankündigten – Sarah rührte sich nicht vom Fleck. Sie war fest entschlossen, als Letzte zu gehen.
»Marcellus, Sie müssen zuerst hinaus.«
»Ich werde Sie hier nicht allein zurücklassen, Sarah. Bitte, gehen Sie.«
»Nein, Sie gehen, Marcellus.«
»Nein, Sie.«
Es war Benjamin Heaps Tür, die den Streit entschied. Plötzlich ertönte ein Knacken. Dann zersplitterte die Türfüllung, und ein schwarzer Nebelschwall quoll herein. Im nächsten Augenblick erlosch das Feuer im Herd.
»Ach, das arme Pferd«, seufzte Sarah, die sich noch immer keinen Ruck geben konnte.
»Hinaus mit Ihnen«, rief Marcellus, packte sie an der Hand und zog sie zum Fenster. »Wir gehen beide.«
Endlich gab Sarah nach. Erstaunlich gewandt kletterte sie aus dem Fenster und hangelte sich an dem Tau hinab – nicht umsonst hatte sie lange in Galens Baumhaus gelebt. Marcellus stieg hinter ihr hinaus und schlug das Fenster zu, sodass das Tau eingeklemmt wurde. Dann machte auch er sich mühelos an den Abstieg, der ein Kinderspiel war im Vergleich zu dem hohen Schornstein am Altweg, durch den er trotz seines beträchtlichen Alters regelmäßig geklettert war. Weit unten sahen Septimus, Jenna, Simon und Lucy einander erleichtert an.
Sarah und Marcellus kamen gut voran und wurden erst durch Stanleys Busch gebremst. Gereizt trat Sarah mit den Füßen dagegen. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, und in einem Steinhagel, der auf die Zuschauer unten niederprasselte, stürzte der Busch in die Tiefe. Als sie wieder die Köpfe hoben, war das Licht in dem kleinen Fenster oben erloschen. Die hohe Außenmauer der Anwanden lag nun völlig im Dunkeln.
Schließlich langte Sarah mit weichen Knien unten an. Jenna schlang die Arme um sie. »Oh, Mom!«
Marcellus stieß sich von der Wand ab und sprang sportlich, wie er hoffte, über Jenna und Sarah hinweg und landete mit einem schmatzenden Geräusch auf dem Boden. »Igitt!«, schimpfte er. »Verflixter Gaul!«
»Das war sehr knapp«, sagte Septimus missbilligend zu ihm. Er war der Meinung, dass sich Marcellus an die vereinbarte Reihenfolge hätte halten sollen.
»Allerdings«, erwiderte Marcellus und inspizierte seine ruinierten Schuhe.
Dass er die Sache so leicht nahm, machte Septimus zornig. »Aber wir haben die Reihenfolge nicht ohne Grund festgelegt. Sie war wichtig – für die gesamte Burg.«
Marcellus seufzte. »Was im kalten Licht der Vernunft richtig erscheint, ist bisweilen völlig falsch, wenn man es im Licht der Wirklichkeit betrachtet. Habe ich nicht recht, Simon?«
»»Ja«, antwortete Simon in Erinnerung an das Gespenst, das Sarah gewürgt hatte. »Da haben Sie recht.«
»Es war meine Schuld«, sagte Sarah. »Ich wollte als Letzte gehen – wie der Kapitän eines sinkenden Schiffs. Aber sei’s drum, das spielt jetzt keine Rolle mehr, nun sind wir in Sicherheit.«
»Besonders sicher fühle ich mich aber nicht«, sagte Lucy und sprach damit aus, was alle dachten. Sie sah Jenna vorwurfsvoll an. »Hast du nicht gesagt, hier wären immer Boote? Ich sehe kein einziges.«
Jenna spähte den schmalen Schlammstreifen entlang, der zwischen dem Rand des Wassers und der senkrechten Wand der Anwanden verlief. Das war merkwürdig. Zwischen den zahlreichen Eisenringen in der Wand und im Flussbett versenkten Gewichten waren Leinen gespannt, an denen normalerweise immer kleine Boote festgemacht waren. Jetzt aber lag da kein einziges.
Lucy wurde immer aufgeregter. »Was sollen wir denn jetzt tun? Das Wasser steigt, und ich kann nicht schwimmen.«
»Keine Sorge, Lucy«, sagte Septimus und klang dabei zuversichtlicher, als er tatsächlich war. »Ich werde Feuerspei rufen. Jetzt, wo wir weit weg von den Dunkelkräften sind, wird er wahrscheinlich kommen.«
Septimus holte lang und tief Luft und stieß den lautesten Drachenruf aus, den er jemals von sich gegeben hatte. Das durchdringende Heulen schallte von den Mauern der
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