Septimus Heap - Fyre
Füße in den Schnee setzte. Jenna war sofort klar, dass sie Reißaus nehmen musste – es konnte nichts Gutes bedeuten, wenn man, weit nach Mitternacht und allein an einem eisigen Fluss sitzend, von einer Hexe beschlichen wurde.
Ganz langsam, als wollte sie Morwenna nicht stören – die wie in einer Art Trance war–, stand Jenna auf. Wäre sie irgendwo anders gewesen, wäre sie sofort losgerannt, doch unglücklicherweise war der einzig mögliche Fluchtweg der Steg, und den nahm Morwenna fast in seiner gesamten Breite ein. Jenna zögerte. Sie war sich sicher, dass Morwenna sie noch nicht bemerkt hatte – die Hexenmutter starrte angestrengt auf die alten Bohlen, als hätte sie etwas verloren. Doch sie kam immer näher, und mit einer merkwürdigen Zielstrebigkeit, die Jenna Angst machte. Jetzt gab es nur eines: Sie musste versuchen, Morwenna zu überrumpeln. Sie würde sich den Hexenmantel wie eine Rüstung um den Leib schlingen und direkt auf sie zurennen. Mit etwas Glück würde sie vorbeiwitschen, bevor die Hexenmutter überhaupt reagieren konnte.
Jenna holte tief Luft und stürmte los. Sie waren nur noch eine Armlänge von Morwenna entfernt, da hob die Hexe den Kopf. »Prinzessin!«, stieß sie hervor.
Jenna blieb stehen. Sie maß mit den Augen, wie viel Platz ihr links und rechts der Hexe auf dem Steg blieb. Es waren jeweils vielleicht zwanzig Zentimeter, mehr nicht. Und darunter war der eisige Fluss.
Morwenna trat einen Schritt vor, und Jenna einen zurück. »Morwenna«, sagte sie, um Zeit zu gewinnen. »Wie … schön, Sie zu sehen.«
Morwenna antwortete nicht. Sie war gerade damit beschäftigt, sich die Regeln des Fußfolge-Zaubers ins Gedächtnis zu rufen. Durfte sie das Opfer jetzt schon packen, oder musste sie vorher alle Fußstapfen abschreiten? Musste sie zuerst bis zum Ende des Stegs gehen und dann zurückkommen? Zu dumm, dass sie sich nicht erinnern konnte.
»Ja«, antwortete sie zerstreut, »sehr schön.« Und dann sagte sie »Mist«, als ihre Füße sie an Jenna vorbeitrugen. Sie musste also jedem einzelnen Schritt folgen. Was für ein blödsinniger Zauber, dachte sie bei sich. »Wenn Sie mich einen Augenblick entschuldigen, Prinzessin Jenna. Äh … gehen Sie nicht weg.«
Jenna trat höflich beiseite, um Morwenna vorbeizulassen. Ein erdiger Geruch nach Laubkompost und fauligen Pilzen wehte sie an, als sich die Hexe an ihr vorbeizwängte. Jenna war verwirrt. Sie hätte schwören können, dass Morwenna hinter ihr her war, doch allem Anschein nach war das nicht der Fall. Sich in falscher Sicherheit wiegend, schlug sie den Weg zum Palast ein.
Hinter ihr nahm Morwenna eine verblüffende Tempoverschärfung vor. Sie flitzte zum Ende des Landungsstegs, wirbelte herum und kam wieder zurück. Und bevor sich Jenna versah, roch sie wieder Laubkompost, und Morwenna setzte ihren zarten Hexenfuß in den letzten Fußstapfen der Prinzessin. Überrascht fuhr Jenna herum. Schwer fielen die Hände der Hexenmutter auf ihre Schultern herab und krallten sich in ihr Fleisch.
»Hab ich dich!«, frohlockte Morwenna. »Endlich.«
* 21 *
WAS WERDEN SOLL
»Lass mich los!«, schrie Jenna, die sich wand und krümmte, um freizukommen.
»Du kannst mir nicht entrinnen«, zischte Morwenna. »Ich habe dich mit einem Greifzauber belegt.«
Jenna war fassungslos – wie hatte sie nur so dumm sein können. Sie hätte wegrennen sollen, als sie noch konnte. Morwenna trieb sie zurück auf den Steg, und Jenna war davon überzeugt, dass die Hexe sie ertränken wollte. Dann waren sie an dem Vertäupfahl, und ohne den Greifzauber aufzuheben, beugte sich Morwenna vor und zog ein kleines, rundes Ruderboot unter dem Steg hervor.
»Steig ein«, stieß sie keuchend hervor.
Aber Jenna dachte gar nicht daran, in ein Boot zu steigen, das aussah wie eine große, im Wasser treibende Teetasse – schon gar nicht mit einer Hexe. »Nein!«, rief sie und versetzte Morwenna einen Stoß. Aber der Greifzauber der Hexe hielt, und Jenna geriet hart am Rand der wackligen Planken ins Taumeln. Sie griff nach dem Vertäupfahl und hielt sich mit beiden Händen daran fest. Wenn Morwenna sie entführen wollte, musste sie schon den Pfahl mitnehmen.
Plötzlich erregte eine Bewegung am Ufer ihre Aufmerksamkeit. Zwei Gestalten, die sich dunkel gegen den Schnee abhoben, näherten sich rasch dem Landungssteg. Jennas Mut sank. Die Hexe bekam Verstärkung – Hexen reisten immer zu dritt. Ein alter Reim kam ihr in den Sinn.
Die erste Hexe
Weitere Kostenlose Bücher