Serafina – Das Königreich der Drachen: Band 1 (German Edition)
sie ihn gefunden – mit Unas Hilfe – am nächsten Morgen, neben diesem kleinen Bächlein.«
Es gab kaum etwas zu sehen, kein Blut, keine Zeichen eines Kampfs. Inzwischen waren auch die Hufspuren des Suchtrupps vom Regen verwaschen und hatten sich mit Sumpfwasser gefüllt. Da war auch eine besonders große und tiefe Pfütze. Ich fragte mich, ob dies die Stelle war, an der der Prinz gelegen hatte. Die Umrisse ähnelten Rufus allerdings nicht sehr.
Kiggs stieg ab, griff in den Beutel an seinem Gürtel und zog ein Heiligenmedaillon hervor, das von Alter und häufigem Gebrauch matt geworden war. Er kniete sich neben die Pfütze, mitten in den Schlamm, und drückte das Medaillon ehrfürchtig gegen die Lippen. Dabei murmelte er leise, als wolle er seinem Onkel Gebete mit auf den Weg geben. Er kniff die Augen fest zu, weil er inständig betete, aber auch, um die Tränen zu unterdrücken. Ich fühlte mit ihm, auch ich liebte meinen Onkel. Was würde ich tun, wenn er tot wäre? Ich gehörte nicht gerade zu den Frömmsten, trotzdem schickte ich ein Gebet zum Himmel, an jeden Heiligen, der es vernahm: Nehmt Rufus in Eure Arme. Beschützt alle Onkel. Spendet diesem Prinzen Euren Segen.
Kiggs stand wieder auf, wischte sich verstohlen die Augen und warf das Medaillon in die Pfütze. Der kalte Wind wehte ihm die Haare aus dem Gesicht und dort, wo das Medaillon lag, kräuselten sich kleine Wellen.
Plötzlich kam es mir in den Sinn, so zu denken, wie ein Drache denken würde. Könnte ein Drache hier, im hellen Tageslicht gelauert und dann jemanden unbemerkt getötet haben? Ganz sicher nicht. In der Ferne sah ich die Straße und die Stadt. Nichts hinderte den freien Blick.
Ich drehte mich zu Kiggs um, der mich bereits fragend ansah, und sagte: »Wenn es wirklich ein Drache gewesen ist, dann muss Euer Onkel an einem anderen Ort getötet und dann hierher gebracht worden sein.«
»Ganz meine Meinung.« Er warf einen Blick zum Himmel, aus dem leichter Nieselregen fiel. »Wir müssen weiter, sonst werden wir nass.«
Er stieg in den Sattel und führte uns vom Sumpf auf die breite, trockene Straße. An einer Gabelung bog er nach Norden ab, auf die sanft geschwungenen Hügel des Königlichen Waldes zu. Wir streiften nur die äußerste südliche Spitze dieses endlosen Waldgebiets. Er war als düster und unheimlich verrufen, aber wir konnten das Sonnenlicht immer sehen. Schwarze Äste teilten den grauen Himmel in Mosaike, die aussahen wie die mit Bleiruten gerahmten Fenster in der Kathedrale. Der Nieselregen wurde stärker und kälter.
Hinter dem dritten Höhenkamm verwandelte sich das Gelände in einen Buschwald, aus den geschwungenen Hügeln wurden Krater und Schluchten. Kiggs ritt langsamer. »Wenn ein Drache jemanden töten will, dann scheint mir dieser Ort hier wie geschaffen dafür zu sein. Die Büsche stehen spärlicher als Bäume, deshalb kann er sich zwar nicht richtig gut, aber doch besser als im Wald fortbewegen. Er hätte die Möglichkeit sich in den Talkesseln zu verbergen, und man sähe ihn nicht, bis man unmittelbar vor ihm steht.«
»Ihr glaubt, Prinz Rufus ist rein zufällig auf den abtrünnigen Drachen gestoßen?«
Kiggs zuckte die Schultern. »Wenn ihn wirklich ein Drache getötet hat, dann ist das sehr wahrscheinlich. Jeder Drache, der vorhatte, Prinz Rufus zu töten, hätte dazu hundert bessere Möglichkeiten gefunden, ohne den Verdacht auf die Drachen zu lenken. Ich an seiner Stelle hätte mich an den Hof begeben, das Vertrauen des Prinzen erschlichen, ihn dann in den Wald gelockt und ihm von hinten einen Pfeil in den Schädel gejagt. Dann hätte ich es als Jagdunfall ausgegeben – oder ich wäre einfach abgehauen. Jedenfalls ohne dieses widerliche Kopfabbeißen.« Er seufzte. »Bevor die Ritter aufgetaucht sind, war ich überzeugt, dass die Söhne Ogdos dahinterstecken. Jetzt weiß ich nicht, was ich denken soll.«
Plötzlich war da ein kaum wahrnehmbares Geräusch; es klang wie das Zirpen der Grillen im Sommer. Und es wurde immer lauter. »Was ist das?«
Kiggs blieb stehen und lauschte. »Das ist die Säule der Krähen. In einer Schlucht nördlich von hier ist ein gewaltiges Krähennest. Dort leben ganze Heerscharen von Vögeln. Man sieht sie schon aus weiter Ferne. Komm, ich zeige es dir.«
Er verließ den Pfad und ritt durchs Gebüsch einen Höhenkamm hinauf. Ich folgte ihm. Oben angekommen sahen wir die schwarzen Vögel, die wie eine träge Wolke am Himmel schwebten. Es mussten Tausende sein, weil das
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