Serafinas später Sieg
aufgeben. Niemals!
Thomas atmete genießerisch die salzige Luft ein, während er Serafina durch die Straßen führte. Ja – Marseille wäre gar nicht schlecht. Es verfügte über Docks, es gab Holz und Segeltuch, und die Stadt war ein Handelszentrum – ein Knotenpunkt zwischen der Levante und dem Norden. Allerdings ein nicht ungefährlicher, denn trotz des Festtages war die Atmosphäre erfüllt von Aggression. Thomas, den Politik nur interessierte, sofern sie sich auf den Handel auswirkte, hatte die Hand auf den Griff seines Messers gelegt und mied dunkle Durchgänge und verlassene Gassen. Ein kostbar gekleideter Kaufmann versuchte, sich zu Pferde den Weg durch die Menge zu bahnen. Flüche schlugen ihm entgegen, haßerfüllte Blicke trafen ihn. Thomas war froh über seine unauffällige Aufmachung.
Wieder einmal kamen sie auf einen Platz – und Serafina blieb wie angewurzelt stehen. Thomas folgte dem Blick ihrer aufgerissenen Augen. Auf der anderen Seite des Platzes, jenseits der Stände, an denen Bänder, Süßigkeiten und Wein feilgeboten wurden, jenseits der Tänzer, Jongleure und Feuerschlucker und der Seeleute mit ihren Mädchen, stand ein vierstöckiges Haus, das – höher und breiter als die Nachbargebäude – die ganze Seite des Platzes beherrschte.
War das vielleicht das Guardi-Haus? Serafinas Verhalten deutete darauf hin. Zum ersten mal kam Thomas der Gedanke, daß die Guardis möglicherweise doch bedeutender waren, als er angenommen hatte. Die Fassade prunkte mit einem Übermaß von Verzierungen – allesamt aus Blattgold –, die im Sonnenlicht blitzten und glitzerten. Thomas fühlte sich an die Paläste in Venedig erinnert – an die Zurschaustellung von Reichtum, die beeindrucken und Macht demonstrieren sollte.
Serafina riß sich los und drängte sich zwischen den Verkaufsständen und fliegenden Händlern, Tänzern, Wasserträgern und Zwiebelverkäufern hindurch. Als sie die Stufen zu dem goldenen Haus erreichte, erwartete Thomas, daß sie hinaufstürzen und mit den Fäusten an die Tür schlagen würde, woraufhin sich eine überschwengliche, rührselige Begrüßungsszene abspielen würde. Er folgte ihr langsam, ohne die kleine Gestalt aus den Augen zu lassen. Serafina rührte sich nicht. Was sollte das? Dieser Prachtbau war zweifellos ihr Vaterhaus, doch als er bei ihr ankam, stand sie immer noch auf derselben Stelle. Ihr Gesicht drückte tiefe Ratlosigkeit aus.
Sie bemerkte ihn erst, als er sie ansprach. »Es ist anders«, sagte sie leise. »Es ist alles ganz anders …«
Thomas schluckte die aufsteigende Ungeduld hinunter. »Du bist lange weggewesen«, erinnerte er sie freundlich. Zu seiner Überraschung sah er Furcht in den ansonsten undurchdringlichen Augen – zum ersten Mal, seit er sie kannte. In dem Versuch, sie zu trösten, nahm er ihre kleinen Hände in seine. Sie entzog sie ihm, als habe sie sich verbrannt, stieß »der Bäcker!« hervor und rannte davon.
»Warte doch!« rief Thomas ihr ärgerlich nach.
Sie blieb stehen. »Ich will erst mit dem Bäcker sprechen«, erklärte sie. »Monsieur Caillot ist ein Freund von mir.«
Wieder mußten sie sich durch die aggressive Menge kämpfen. Irgend jemand schlug ihm ein Bündel Lavendel ins Gesicht. Thomas, der damit gerechnet hatte, seine Freiheit wiedergewonnen zu haben, schob es wütend beiseite. Er betrat hinter Serafina die Bäckerei.
Der Duft von Frischgebackenem schlug ihnen entgegen. Serafina begrüßte den Bäcker, dessen dickes rotes Gesicht keinerlei Anzeichen des Erkennens zeigte, was allerdings kein Wunder war. Mit den kurzen Haaren und den Jungenkleidern hatte sie sicherlich kaum Ähnlichkeit mit dem Mädchen, das vor so langer Zeit nach Italien aufgebrochen war. Serafina schien ihre Fassung wiedergewonnen zu haben. Bald würde sie den Mut finden, zu dem goldenen Haus hinaufzusteigen. Die beiden unterhielten sich in schnellem Marseiller Französisch, und Thomas machte gar nicht den Versuch, dem Gespräch zu folgen. Ein etwa siebzehnjähriges Mädchen kam aus der Backstube und begann, Brotlaibe auf dem Ladentisch aufzustapeln. Ihre festen, vollen Brüste quollen fast aus dem Décolleté, das lockige Haar war mehlbestäubt. Immer wieder huschte ihr Blick zu Thomas, der dies jedesmal mit einem Lächeln quittierte. Es blieb ihm jedoch keine Zeit, die Bekanntschaft zu vertiefen, denn zu seiner Verblüffung sah er plötzlich, wie Serafina sich vorbeugte und ein Brot in ihrem weiten Hemd verschwinden ließ, als der Bäcker
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