Serenade für Nadja
arbeitslos.«
»Mach dir nichts draus. Du findest garantiert wieder was.«
Nach dem Essen brachte Tarık mich nach Hause. Ich setzte mich ins Wohnzimmer und dachte lange nach. Es hatte mir ungeheuer gutgetan, an so einem Tag wenigstens einen Menschen an meiner Seite zu haben. Tarık war ein Yuppie, ein selbstverliebter Kerl mit einem Hang zu schicker Kleidung und teuren Uhren und Autos, und damit eigentlich nicht mein Typ, aber ein gutes Herz hatte er doch. Ich war ihm richtig dankbar.
Wenn Kerem bis jetzt noch nichts mitbekommen hatte, würde ich nichts zu ihm sagen und erst die Zeitung vom nächsten Morgen abwarten. Falls besagter Artikel auch tatsächlich erscheinen sollte. Ich traute der Sache nicht recht, aber Tarık schien sich sicher zu sein.
Der Tannensetzling im Wohnzimmer tat eine beruhigende Wirkung auf mich. Ich holte Wasser aus der Küche und goss ihn. Dann strich ich über seine Nadeln, als streichelte ich das Gesicht meiner Großmutter.
Das Essen und das Beruhigungsmittel schlugen allmählich an. Ich rollte mich auf der Couch ein, mit einem Mal todmüde.
Im Schlaf kommt es mir so vor, als bebte die Erde. Die Couch, auf der ich liege, hebt und senkt sich, wird immer wieder erschüttert. Jeden Augenblick kann ich herunterfallen.
Das ist vielleicht das lang befürchtete große Erdbeben, denke ich, und das beruhigt mich sogar, denn dann werden alle sterben, auch die Leute an der Uni und die von der Zeitung. An den Tod meines Sohnes denke ich komischerweise nicht. Ich werde durchgeschüttelt und bin dabei glückselig.
Von weitem höre ich das Wort »Turbulenzen«. Da tippt mich jemand auf die Schulter.
»Schnallen Sie sich bitte an.«
Ich blicke auf und sehe die Stewardess Renata. »Wir sind in einer Turbulenzzone. Sie haben wahrscheinlich die Ansagen nicht gehört.«
»Entschuldigung.«
Schlaftrunken lege ich meinen Sicherheitsgurt an. Das Riesenflugzeug wird ziemlich durchgerüttelt, selbst die Gepäckfächer über unseren Köpfen knarren. Es ist hell im Flugzeug, die Blenden vor den Fenstern sind hochgeschoben worden. Die Leute haben ihr Frühstück vor sich, müssen aber ihre Becher festhalten, damit nichts verschüttet wird. Das Paar, das sich unter der Decke vergnügt hat, scheint aus tiefem, glücklichem Schlaf zu erwachen. Strahlend blicken die beiden einander an. »Ach, der gesegnete Schlaf der Jugend.« Wer hatte das gesagt? Natürlich Maximilian.
Ich hatte eine E-Mail von ihm bekommen. Darin schrieb er, er sei gut angekommen und werde die Woche in Istanbul nie vergessen. Er fragte mich, wie es mir gehe. Da ich nicht gut antworten konnte »Wegen Ihnen stecke ich furchtbar in der Tinte«, hatte ich einfach geschrieben »Mir geht es gut«.
18
Wieder war ich mit einem Beruhigungsmittel eingeschlafen, und wieder taten mir am nächsten Morgen sämtliche Gelenke weh. Seit jener Zeitungsmeldung wachte ich immer mit dem Gefühl auf, dass etwas schieflief und ich auf eine Katastrophe zusteuerte, bis mir scharf wie ein Messer ins Bewusstsein schoss, was tatsächlich geschehen war. Mein Kopfkissen war feucht. Hatte ich etwa geweint? Ich hatte es gar nicht gemerkt.
Mühsam stand ich auf und holte die Zeitung. Nichts auf der ersten Seite, nichts auf der zweiten, Seite drei, vier, fünf, sechs … Ich blätterte und blätterte, und als ich schon alle Hoffnung aufgeben wollte, sah ich auf Seite zwölf einen kleinen Artikel.
DIE BESCHULDIGTE FRAU DEMENTIERT:
ICH BIN UNSCHULDIG!
In dem Skandal, der seit mehreren Tagen die Universität Istanbul erschüttert, gibt es eine neue Wendung. Die für die Öffentlichkeitsarbeit der Universität zuständige Maya Duran, die beschuldigt wird, mit dem Gastprofessor Maximilian Wagner eine Beziehung eingegangen zu sein, hat erklärt, es handle sich dabei um reine Verleumdung.
Hier der Wortlaut ihrer Erklärung:
»Mit Professor Wagner ist nichts geschehen, was über eine rein professionelle Beziehung hinausginge. Wenn man das Alter des Professors bedenkt, seinen internationalen Ruf sowie meine Verantwortung als türkische Frau und türkische Mutter, so lässt allein das schon keinen anderen Schluss zu. Ich bin entsetzt darüber, wie es zu einer solchen Verleumdung überhaupt kommen konnte.«
Ich war schon sehr überrascht. In meinem Sinne war die Meldung durchaus, aber gesagt hatte ich etwas ganz anderes. Das mit der türkischen Frau und der verantwortungsbewussten türkischen Mutter hatten sie sich aus den Fingern gesogen, weil sie wohl meinten, mich
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