Serenade für Nadja
daran, als ich meine Lektüre an einer eher ermutigenden Stelle unterbrochen hatte, nämlich da, wo am Ufer ein Feuer entfacht wurde, damit die Passagiere sich nicht so alleine fühlten.
Durch das, was ich schon vorher gelesen oder von Max gehört hatte, entstanden in meinem Kopf ziemlich klare Bilder. Ich konnte mir deutlich vorstellen, wie die Passagiere an der Reling standen. Und als ich von der gewaltigen Explosion las, konnte ich nicht umhin, die Augen zu schließen und mir die entsetzlichen Szenen auszumalen.
Und doch bemühte ich mich, auch das zu würdigen, was einen den Glauben an den Menschen nicht ganz verlieren ließ. So übersprang ich keine von den Passagen, in denen es um die Proteste ging, die der Untergang der Struma ausgelöst hatte.
Zunächst kam es zu Spannungen zwischen der Jewish Agency und Sir Harold MacMichael, dem Hochkommissar im Mandatsgebiet Palästina und Hauptverantwortlichen dafür, dass den Passagieren der Struma keine Visa erteilt worden waren. Wenige Tage nach der Katastrophe wurde in den von Juden bewohnten Teilen Palästinas folgendes Plakat ausgehängt:
»MORD: Sir Harold MacMichael, Hochkommissar für Palästina, GESUCHT wegen MORDES an achthundert im Schwarzen Meer ertrunkenen Flüchtlingen des Schiffes Struma «
Noch mehr Schuld aber wurde Baron Walter Edward Guiness Moyne angelastet, dem britischen Nahost-Minister, der auf die Türkei Druck ausgeübt hatte, damit man die Passagiere nicht an Land ließ. Am 6. November 1944 fiel Baron Moyne in Kairoeinem Attentat zum Opfer. Als Tatverdächtige wurden der siebzehnjährige Eliahu Hakim und der zweiundzwanzigjährige Eliahu Bet-Zuri festgenommen und Anfang 1945 zum Tode verurteilt und hingerichtet. Als sie bei ihrem Prozess befragt wurden, warum sie die Tat begangen hätten, antworteten sie: »Aus Rache für die Struma .«
Hochkommissar MacMichael wiederum entkam im August 1944 nur knapp einem Mordanschlag.
Was überhaupt zur Explosion des Schiffes geführt hatte, wurde erst Anfang der sechziger Jahre entdeckt, als die Frankfurter Staatsanwaltschaft den Militärhistoriker Jürgen Rohwer beauftragte, die Ursache aufzuklären. Rohwer durchforstete im Archiv der deutschen Marine die Aufzeichnungen von Kriegsanfang bis Februar 1942 und kam zu dem Schluss, dass zum fraglichen Zeitpunkt im Schwarzen Meer kein deutsches U-Boot im Einsatz war. Von den in Warna stationierten deutschen Kriegsschiffen, die italienischen Zisternenschiffen Begleitschutz geben sollten, war in der Zeit vom 20. bis zum 28. Februar ebenfalls keines unterwegs. Von deutscher Seite war die Struma also nicht versenkt worden.
Während seiner Recherchen korrespondierte Rohwer auch mit dem Chef der kriegsgeschichtlichen Abteilung der sowjetischen Marine und erfuhr von ihm, zur Zeit des Struma -Untergangs sei das sowjetische U-Boot SC 213 in jener Gegend unterwegs gewesen und habe am 24. Februar 1942 vierzehn Seemeilen nordnordöstlich der Bosporus-Einfahrt einen Transporter versenkt, dessen Name nicht festgestellt worden sei.
Mehr brauchte ich nicht mehr zu wissen. Es war ein gemeinschaftliches Verbrechen begangen worden. Großbritannien, Rumänien, Deutschland, die Türkei und die Sowjetunion hatten sich zusammengetan und 769 unschuldige Menschen in den Tod geschickt. Und darüber sollte nach Möglichkeit für alle Zeiten geschwiegen werden. Wie hatte Maximilian gesagt: »Es gibt keine unschuldige Regierung.«
Er war damals ausgewiesen worden, damit er der Sache nicht auf den Grund ging. Und als er nach so vielen Jahren unerwarteterweise in die Türkei zurückkehrte, hatte man das wieder damit in Verbindung gebracht und den Geheimdienst auf ihn angesetzt. Auch das Interesse der Briten und der Russen erklärte sich so.
Da fielen mir die Noten der Serenade wieder ein. Die musste ich finden. Die Suche danach sollte mein Widerstand gegen die Schlechtigkeit der Welt sein, gegen Krieg und Feindschaft, gegen jegliche Macht.
Nach allem, was ich wusste, befanden sich die Noten zusammen mit der Universitäts-Akte Maximilians aller Wahrscheinlichkeit nach in deutschen Archiven.
Ich klaubte die verstreut liegenden Blätter wieder zusammen und ging dann in die Küche, wo noch einiges aufzuräumen war. Vom Gang aus sah ich, dass Kerem wieder vor dem Computer hockte. Ob ich den Jungen wohl vernachlässigte? Ich ging zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter, was er gar nicht zu merken schien.
»Könntest du mir bei etwas helfen?«, fragte ich.
Er hob den Kopf und
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