Settlers Creek
wiedersehen.
Er spürte, daß sie ihn loslassen wollte, und hängte sich noch fester und schwerer an sie. Über ihre Schulter hinweg beobachtete er die altmodischen Anzeigetafeln mit ihren großen weißen Buchstaben, die unaufhörlich klappernd an die richtigen Positionen rollten. Dann stand seine Mutter auf und pflückte ihn von sich ab. Sie legte ihm noch kurz die Hand auf den Kopf und ging schnell weg. In dem Traum hatte er noch immer nicht ihr Gesicht gesehen. Er starrte auf ihren Rücken, bis sie in der Menge verschwunden war.
Box öffnete die Augen.
Ihm schwirrte der Kopf, wie immer, wenn er tagsüber geschlafen hatte. Die tiefstehende Herbstsonne schien unter dem Vordach der Veranda hindurch auf sein Bett. Sein Körper war in blasses weißes Licht getaucht. Er hatte im Schlaf geschwitzt, als hätte er hohes Fieber. Sein Hemd klebte am Rücken, und auf dem Kissen gab es eine feuchte Stelle, wo Speichel aus seinem Mundwinkel getropft war.
Mark, dachte er.
Und dann ging der Tod seines Sohnes wieder auf ihn los, mit schwarzem Gesicht und rotunterlaufenen Augen, und im selben Moment war der Traum verschwunden. Box’ Bewußtsein schrak zurück und wollte flüchten oder sich zumindest an irgend etwas festhalten, das ihn darüber hinwegtragen würde. Nichts gefunden. Neuer Versuch. Dito. Ein Unfall wäre schon schlimm genug gewesen – mit dem Auto, beim Schwimmen, sogar etwas, wie es dem armen Jungen passierte, der so betrunken war, daß er auf den Eisenbahnschienen einschlief. Alle diese Tode waren dumm, sinnlos und ein Verlust. Doch was Mark geschehen war – was Mark getan hatte –, das war noch schlimmer. Box starrte an die leere Zimmerdecke und sah dort den Hügel mit der Reihe alter Kiefern und dem Seil, das wartete.
Dumme, sinnlose Tode passierten andauernd. Sie tauchten in den Fernsehnachrichten auf, oder er las beim Frühstück in der Morgenzeitung davon. Aber keiner war wie dieser.
Box hörte sich stoßweise einatmen. Er drückte sich in einem wütenden Reflex vom Bett hoch und schwang die Füße auf den Boden. Er barg das Gesicht in den Händen.
Die Stimmen, die er im Traum gehört hatte, wollten nicht weggehen. Es war ein Gesang, der aus einem anderen Zimmer kam und durch die Holzwände drang. Die Worte klangen nach Maori, die Melodie kannte er, konnte sich aber nicht an den Titel des Lieds erinnern.
Leise öffnete sich die Tür. Einen Moment lang wurde der Gesang lauter, dann war Liz ins Zimmer geschlüpft und hatte die Tür hinter sich zugezogen. Er richtete sich auf und sah sie an, sah ihr Gesicht.
»Was ist passiert?«
»Der Bestattungsunternehmer hat angerufen. Die Gerichtsmedizin hat Mark freigegeben. Er ist jetzt im Beerdigungsinstitut. Wir können ihn sehen.«
Er stand auf. »Wie spät ist es?«
»Fast vier.«
»Wo ist der Ausschaltknopf für diese Leute?«
»Ich mag es, wenn sie singen. Besser Gesang als Stille.«
Box rieb sich die Schläfen. »Ich sollte tagsüber nicht schlafen. Fühle mich wie ausgekotzt.« Das Bier hatte auch nicht gerade geholfen. »Wann gehen die wieder?«
»Ich kann sie doch nicht einfach rausschmeißen.«
»Aber sie werden doch wohl nicht hier übernachten wollen!«
»Nein. Tipene und ein paar andere sind in einem Motel, die meisten aber haben Verwandtschaft hier.«
Box streckte sich. »Sehr gut. Entschuldige, mir geht’s einfach beschissen.«
»Wir sollten gehen.«
»Ich brauche noch zwei Minuten.«
***
Box und Liz wurden in einen gefliesten Raum geführt. In der Mitte stand ein Metalltisch auf Rädern. Ein Seziertisch. Das war der richtige Ausdruck, dachte Box. Mark – Marks Leichnam – liegt auf einem Seziertisch.
Derselbe dickliche Bestattungsunternehmer, der bei ihnen zu Hause gewesen war, hatte sie schon an der Tür erwartet. Box fahndete in seinem vernebelten Hirn vergebens nach dem Namen des Mannes. Das Gebäude wirkte neu: eine Mischung zwischen Kirche und Softwareschmiede. Der Bestattungsmensch war höflich und zuvorkommend, aber aus irgendeinem Grund hätte Box ihm gerne eine geknallt, einfach damit diese Vornehmtuerei ein Ende hätte.
Während der in angespanntem Schweigen verbrachten Fahrt hatte sich Box die dramatische Enthüllung von Marks Gesicht ausgemalt. Offenbar hatte er zu viele amerikanische Krimis gesehen. In Wirklichkeit sahen sie Marks Gesicht von dem Moment an, als sie den Raum betraten. Das gestärkte weiße Leintuch war mit größter Exaktheit genau bis zum Halsansatz zurückgeschlagen. Der blau unterlaufene Hals
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