Setz dich über alles weg
Krankenhaus!«
Ich sperrte die Tür auf, und als Jim
sich neben mich setzte, sah er nach der Uhr. »Du lieber Himmel, Mary, es ist
halb eins! Wir hatten Schwierigkeiten, und ich habe nicht gemerkt, wie die Zeit
vergeht. Ich bringe dich nach Hause und fahre dann ins Krankenhaus.« Ich
rutschte so dicht wie nur möglich zu ihm hin, um mich von seiner warmen Kraft
und gesunden Nüchternheit durchströmen zu lassen.
»Was ist los — frierst du?«
Ich zitterte noch krampfhafter und
deutete mit unsicherem Finger auf die Medizinischen Anomalien und Kuriositäten.
»Hast du ‘reingeguckt? Verdammt
interessant, wie?«
»Gelinde gesagt — ja. Kriegen viele
Frauen Mißgeburten statt Babies?« Die Stimme versagte mir, als ich diese
Schicksalsfrage an ihn richtete, und das Wort ›Babies‹ klang fast wie ein
Jammerschrei.
»Ich weiß nicht, was du unter
Mißgeburten verstehst, aber wenn damit anomale Kinder gemeint sind, ist der
Prozentsatz äußerst gering. Ich verstehe nicht, wie du so unlogisch sein
kannst! Du läßt dich lieber durch Volksmärchen und Gruselgeschichten
beeinflussen als durch die Ziffern, die die bedeutenden Fortschritte der
Medizin in den letzten fünfzig Jahren belegen.« Er beherrschte sich mühsam,
deshalb klang seine Stimme etwas schroff. Ich gab nach. Natürlich hätte ich ihn
bitten sollen, stehenzubleiben, hätte ihm die Abbildungen, die mich erschreckt
hatten, zeigen und ihn nach den genauen statistischen Angaben fragen sollen —
wie viele Mißgeburten pro Jahr und pro soundso viele tausend Einwohner... Jim
mußte zu einem Patienten, und er hatte es eilig. Es fiel mir nicht im Traum
ein, ihn aufzuhalten. Außerdem wußte ich, daß ich mich wie eine hysterische
Ziege benahm, und schämte mich ein wenig.
Während er ins Krankenhaus fuhr, ging
ich zu Bett und hatte schreckliche Träume.
Beim Frühstück sagte Jim: »Du bist mir
gestern abend unruhiger vorgekommen als sonst — hattest du Schmerzen?« Seine
Stimme klang unbekümmert, aber er sah mich forschend an.
»Nein. Mir geht es gut. Es war bloß das
ekelhafte Buch, das mich kopfscheu gemacht hat!«
»Ich hätte es nicht herumliegen lassen
sollen. Die Anomalien sind eine Sammlerrarität, und es hat viel Zeit und Mühe
gekostet, um ein Exemplar aufzutreiben. Leg dich hin — du hast dunkle Ränder um
die Augen!«
Ich konnte es kaum erwarten, daß er
wegging. Ich wollte mich nämlich mit einer pensionierten Krankenschwester
beraten, die im selben Haus wohnte. Ja, ich würde mich hinlegen — aber erst
nachdem ich Mrs. Tripp gesprochen hatte.
Ich klemmte das Buch unter den Arm und
ging zu Mrs. Tripp hinunter. Wir pflegten oft morgens Kaffee miteinander zu
trinken, während sie mir von ihren Krankenhauserlebnissen erzählte, und ich
konnte sie sehr gut leiden. Sie begrüßte mich herzlich.
»Kommen Sie nur herein, liebe Mary! Ich
sehe, Sie haben ordentlich zugenommen. Aber die Fußgelenke sind nicht besonders
geschwollen — wie? — das ist gut — schlimme Sache mit den Nieren! — ich habe
oft gesehen — na ja... Nehmen Sie Platz, ich mache Kaffee.« Sie kam mit dem
Kaffee aus der Küche zurück, schaltete das Radio ein, um ihre Lieblingssendung
als angenehme Begleitung unseres Geplauders zu hören, und nahm sich wieder das
Strickzeug vor.
»Mrs. Tripp, darf ich Ihnen dieses Buch
zeigen und Sie etwas fragen?« Mit zitternden Händen suchte ich die Rosinen
heraus. Mrs. Tripp schob die Brille nach vorn, hielt das Buch so weit wie nur
möglich von sich weg und begann darin zu blättern.
»Gott sei uns gnädig! So was habe ich
noch nicht gesehen! Wo haben Sie es her?«
»Es gehört Jim. Er sammelt seltene
Medizinbücher. Mrs. Tripp, kommt es wirklich vor, daß Kinder mit vier Beinen
und sechs Köpfen geboren werden — und was macht man da?«
Sie richtete sich steif auf und zupfte
ihr Häubchen zurecht.
»Da fragen Sie mich zuviel! Aber eines
weiß ich — schwangere Frauen sollten nicht solche Bücher lesen! Ja, das ist mir
klar! Dr. Roberts würde das gar nicht recht sein, aber schon ganz und gar
nicht...!« Sie preßte die Lippen zusammen und betrachtete ihre Kakteen. — »Aber
Sie sind doch jahrelang Krankenpflegerin gewesen, Sie müssen etwas von
Geburtshilfe verstehen. Sind denn alle Ärzte krasse Lügner?«
Einer diplomierten Pflegerin gegenüber
braucht man nur die Vermutung zu äußern, ein Arzt könnte ein Lügner sein — da
reagiert sie sofort. »Gewiß nicht! Ich erinnere mich an einen Krankenhausfall —
das war,
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