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Setz dich über alles weg

Setz dich über alles weg

Titel: Setz dich über alles weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Bard
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Jim im Laufe von fünfzehn Minuten
zur Welt beförderte.
    »Wie du siehst, mein Schatz, ist es
eigentlich die Natur, die die Kinder entbindet. Zum Kuckuck, wir wußten nicht
mal, daß sie Zwillinge im Uterus hat, geschweige denn Drillinge, und trotzdem
ging alles gut, mit ihr und den Babies! Wenn wir erst mal das siebente haben,
wirst du verstehen, was ich meine.«
    Jim fuhr durch eine lange, kurvenreiche
Straße und hielt vor einem Haus im Kolonialstil. Weißer Nebel wogte zwischen
den schwarzen Bäumen, die sich oben zu einem Tunneldach zusammenschlossen. Der
Wind heulte, die Fenster des Autos klapperten.
    Jim griff nach seiner Tasche. »Hinten
im Wagen liegen ein paar Zeitschriften. Ich bin gleich wieder da. Dann schauen
wir uns einen schönen Rührfilm an, damit du dich richtig amüsierst.«
    Die nächste Straßenlampe, etwa einen
Häuserblock weit entfernt, schwankte im Winde und warf seltsame, unerwartete
Schatten durch das Geäst. Recht einsam und recht finster war’s. Ich sperrte die
Türen von innen ab, knipste das launische Spielzeuglämpchen an, das man
Leselicht nennt, und langte nach hinten, um zu sehen, was für Lektüre vorhanden
sei.
    Zwei Nummern des Amerikanischen
Ärztejournals, das Jahrbuch für Innere Medizin und ein dicker Wälzer, betitelt
Medizinische Anomalien und Kuriositäten. Ich blätterte die Journale durch, sie
brachten keine Bilder, nur eine Unmenge langer Worte. In dem Jahrbuch gab es
Abbildungen, aber es waren lauter rote und blaue, mit kleinen Würmchen bedeckte
Kreise — krankhafte Zellstrukturen. Ich öffnete den Wälzer. Medizinische
Anomalien und Kuriositäten. Solide Fotos und Zeichnungen. Mein ängstliches
Gemüt bekam nun die sichtbaren Belege für die Schauergeschichten geliefert, die
die Leute mir erzählt hatten. Babies mit zwei Köpfen! Frauen mit sechs Brüsten!
Ein Mann, dem ein aufgeblasener Ballon aus dem Kopf wächst — eine sogenannte
Meningocele!
    Mich überlief es kalt. Ich sah
verzweifelt auf die Uhr. Jim war seit einer Stunde weg. Der Wind hatte
nachgelassen und säuselte melancholisch durch das Blätterwerk. Kleine
Regenschauer sprühten gegen die Windschutzscheibe. Schnell blätterte ich
weiter...
    Wo um Himmels willen steckt Jim? Jetzt
ist er schon seit drei Stunden in diesem Haus...
    Millie Christine-Rosa Josepha Blazek,
siamesische Zwillinge unter der medizinischen Bezeichnung Ischiopagi,
erschwerten sich ihre körperlichen Probleme noch dadurch, daß sie hohe
Knöpfelschuhe, weiß gerippte Strümpfe mit deutlich sichtbaren
Schnürstrumpfbändern und geblümte Kiepenhüte trugen. Ihre Kleider hatten zwei Oberteile,
aber nur einen gemeinsamen, reich gefältelten Rock.
    Louis und Louise, gleichfalls
siamesische Zwillinge, waren zu keiner Zusammenarbeit zu bewegen. Das eine
murrte und weinte die ganze Zeit, das andere war ausgelassen heiter. Mama
versuchte dieser kleinen Persönlichkeitsspaltung — schließlich handelte es sich
ja doch um ein und dasselbe Wesen! — dadurch abzuhelfen, daß sie ihnen
Zigeunertracht anzog, mit Brillantdiademen ä la Freiheitsstatue,
Pfauenfederfächern und zahllosen Metern Perlschnur um die gemeinsame Taille.
Ich konzentrierte mich eifrig auf die Frage, ob Louis und Louise unter den
dünnen Zigeunerröcken einen oder zwei Popos besessen hätten, und auf die damit
zusammenhängenden Probleme. Da hörte ich dicht hinter mir die Sirene eines Krankenwagens
heulen.
    Ich sprang drei Meter hoch in die Luft
und stieß einen wilden Schrei aus.
    Das Krankenauto parkte vor dem Kühler
unseres Wagens, zwei Mann stiegen aus, holten eine Tragbahre aus dem
rückwärtigen Teil des Autos und verschwanden im Haus. Über dem Geheul der
Ambulanz hatte ich Louis und Louise aus den Augen verloren, ich weiß also bis
heute nicht, wie es mit ihren Popos stand; aber es gab noch genügend anderen
Lesestoff.
    Schließlich folgte eine lange
Abhandlung über die Gefahren praenataler Eindrücke. Wenn die Mutter vor einem
Rhinozeros, einer Erdbeere oder einem Käfer erschrickt, zeigen sich nachher die
unverkennbaren Merkmale des Schreckobjektes auf der Haut des Sprößlings. Ich
klappte das Buch zu und machte mich darauf gefaßt, ein Kindlein zu hegen und zu
pflegen, das auf dem einen Kopf das Wort ›Anomalien‹ und auf dem anderen das
Wort ›Kuriositäten‹ eingraviert hat.
    Die Haustür wurde geöffnet, und die
Ambulanzträger kamen mit einem Patienten heraus. Jim ging neben der Bahre her
und überwachte die Verladung. »Wir sehen uns im

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