Seziert: Das Leben von Otto Prokop (German Edition)
der von ihm organisierten Augustsitzung der Sowjetischen Akademie für Landwirtschaftswissenschaften eine Rede »Über die Situation der Biologie«. Stalin stimmte dabei der von Lyssenko behaupteten Vererbung erworbener Eigenschaften persönlich zu. Daraufhin wurde das genetische Wissen von Gregor Mendel (Vererbungsgesetze) bis Thomas Morgan (Aufbau der Chromosomen) als »faschistisch« und »bourgeois« verworfen.
Wer künftig die klassische, durch Züchtungsversuche mit Pflanzen und Tieren einwandfrei belegte Genetik vertrat, durfte nicht mehr promovieren. Wissenschaftliche Genetiker verloren ihre Titel, wenn sie der neuen Leitlinie nicht zustimmten. Sogar die Forschung über Pflanzenhormone, Zellen und Chromosomen – die bereits seit 1873 im Mikroskop darstellbar waren – wurde verboten.
»Das«, so berichtet der unter Lyssenko verfolgte Biologe Schores Medwedew, »warf die sowjetische Biologie um Jahre zurück. Es entstand ein Monopol in der Biologie: Lyssenko spielte die Rolle eines unfehlbaren Lieferanten für wissenschaftliche Wahrheiten.
Lyssenkos Bild hing in allen wissenschaftlichen Instituten. In Kunsthandlungen wurden Büsten und Reliefs von Lyssenko verkauft. In einigen Städten setzte man ihm ein Denkmal. Der Staatschor hatte eine Hymne auf Lyssenko in seinem Repertoire. In Gesangsbüchern konnte man volkstümliche Verse finden:
Spiele weiter fröhlich Akkordeon,
mit meinem Mädchen lass mich singen,
vom ewigen Ruhm des Akademikers Lyssenko.
Er schützt uns, damit wir nicht hintergangen werden,
von den Mendelisten-Morganisten.«
Thomas Hunt Morgan hatte schon 1910 bewiesen, dass Chromosomen die Träger der Erbinformation sind, und Gregor Mendel hatte 1866 die Vererbungsregeln veröffentlicht. Mit diesen angeblichen Irrlehren war nun also Schluss. Lyssenko entschied, dass es Gene nicht gab. Eine Zelle entstehe auch nicht aus anderen Zellen, sondern bloß in deren Nähe . Und wenn man Vögeln haarige Raupen zu fressen gäbe, so schlüpften aus den Eiern Kuckucke.
Diese teils zurechtgebastelten, meist aber hilflosen Vorstellungen wären weniger problematisch gewesen, wenn man sie im Labor offen prüfen und widerlegen hätte dürfen. Doch das passierte nicht. Lyssenko erhielt stattdessen eine Professur. Bei seiner ersten Vorlesung ließ er sich von einer Blaskapelle begrüßen. Sein politischer Einfluss gepaart mit Großmannssucht brachte ihn dazu, erfundene Versuchsergebnisse ungestraft zu veröffentlichen. Dies ging sehr weit – beispielsweise durfte Lyssenkos Kollege Boschjan offiziell behaupten, Viren in Bakterien (und umgekehrt) umgewandelt zu haben, was völlig unmöglich ist.
Die für die Bevölkerung schlimmsten Auswirkungen entstanden in der Pflanzenzucht bei der Herstellung von Grundnahrungsmitteln. Anstatt beispielsweise Getreide wie gehabt zu kreuzen, schlug Lyssenko vor, die Pflanzensetzlinge sehr eng aneinander zu pflanzen. Die schwächeren Pflänzchen würden sich dann zugunsten der stärkeren opfern.
Das war eine falsch verstandene Auslegung der Tatsache, dass besser an ihre Umwelt angepasste Arten tatsächlich öfter überleben. Das tun sie aber nur im Rahmen ihres vorhandenen genetischen Programms. Eine »Umerziehung« einzelner Pflanzen ist nicht möglich, wie man beispielsweise an den Baumgrenzen im Gebirge erkennt. Wenn Pflanzen sich an niedrigere Temperaturen und weniger Sauerstoff gewöhnen könnten, wäre auch das Hochgebirge von Bäumen besiedelt.
Lyssenko führte zudem neuartige Dünger ein. Einer davon bestand aus einer Mischung von Kalk mit dem Kunstdünger Superphosphat. Diese einzeln sinnvoll düngenden Stoffe dürfen aber nicht miteinander gemischt werden. Sie verbinden sich dann zu Calciumphosphat, einem unlöslichen und daher für Pflanzen unverwertbaren Stoff. Wie ein Kind mischte Lyssenko dieses mit jenem und pries es als Forschungsergebnis an.
Trofim Lyssenko.
Forschende Kollegen erkannten natürlich, dass Lyssenko keine genügenden Kenntnisse, geschweige denn naturwissenschaftlich-experimentelles Verständnis oder überhaupt eigene Ideen hatte. Er äffte bloß den Erfolg von Iwan Mitschurin (1855–1935) nach. Mitschurin hatte durch klassische Kreuzung frostresistente Obstsorten gezüchtet, so dass in den kalten Gebieten der Sowjetunion Obst angebaut werden konnte. Das gelang ihm aber eben nicht durch Umerziehung und Gewöhnung der Obstbäume, sondern durch die Anwendung der nun verbotenen Regeln der Mendel-Genetik.
Da Lyssenkos Versuche erkennbar nur
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