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Seziert: Das Leben von Otto Prokop (German Edition)

Seziert: Das Leben von Otto Prokop (German Edition)

Titel: Seziert: Das Leben von Otto Prokop (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Benecke
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Fehlschläge nach sich zogen, sorgte er dafür, dass dies nicht aufflog. Wissenschaftler mit anderen Ansichten wurden verfolgt, kaltgestellt und in mindestens einem Fall umgebracht. Der Mordverdacht besteht bei Nikolai Iwanowitsch Wawilow (1887 bis 1943), Direktor des Institutes für Genetik der Akademie der Wissenschaften der UdSSR in Moskau. Kein Wunder: Ein fachkundiger Genetiker, der zudem sozial einflussreich war – das hätte für Lyssenko schiefgehen können.
    Das unbrauchbare Lyssenko-Programm wurde bis in die 50er Jahre gnadenlos durchgezogen. Es kam zu Ernte-Ausfällen und schweren Hungersnöten mit hunderttausenden, vielleicht sogar Millionen Toten. Es war bereits das zweite Mal, dass Stalin aus ideologischen Gründen eine Hungersnot auslöste .
    Selbst der langjährige chinesische Staatsführer Mao Zedong (1893–1976) hatte für den »Großen Sprung nach vorn« (1958–1961) die Anwendung von Lyssenkos Zuchtprogramm angeordnet, obwohl damals schon abzusehen war, dass es im Wortsinn fruchtlos sein würde. Ob die Lyssenko-»Methode« in China auch wirklich umgesetzt oder nur pro forma angeordnet wurde, ist nicht bekannt.
    Das Schwert des unwissenschaftlichen Wahnsinns hing auch über Ostdeutschland. Otto Prokop hat sich noch als alter Mann ausdrücklich an den »Schutz« (seine Worte) erinnert, den die ostdeutsche Wissenschaft durch die ostdeutschen Politiker genoss. So konnte beispielsweise der bekannte Genetiker und Pflanzenzüchtungsforscher Hans Stubbe (1902–1989) naturwissenschaftliche Genetik und sinnvolle Nutzpflanzenzüchtung betreiben.
    Dieser Schutzmantel wirkte über Jahrzehnte und erlaubte es auch Otto Prokop zu forschen. Unter anderem im Bereich der Blutgruppenforschung musste er dabei zwingend die echten Vererbungsgesetze und keine erfundenen Regeln anwenden. Hätte sich die ostdeutsche Regierung der sowjetischen Vorgabe des »Lyssenkoismus« unterworfen, wäre die von Prokop aus Bonn mitgebrachte Blutgruppenforschung nicht möglich gewesen. Das hätte bis heute spürbare Nachwirkungen gehabt. Die weltweite Vergleichssammlung Y-chromosomaler, also männlicher, genetischer Fingerabdrücke wurde wie erwähnt beispielsweise später am Institut für Rechtsmedizin in der Hannoverschen Straße geführt.

Die Mauertoten
    Ein Beispiel für den Widerspruch zwischen »unbestechlicher« Wahrheit und politischer Auslegung betrifft die Toten, die an der Berliner Grenze und anderen Grenzbereichen zwischen Ost- und Westdeutschland starben. Diese Fälle bearbeitete grundsätzlich das Ministerium für Staatssicherheit. Tatortberichte, Sterbeurkunden und Zeugenaussagen wurden je nach politischer Deutung gefälscht. Auch die Leichenschau und die Beisetzungen – oft nach Einäscherung – wurden vom MfS gesteuert und überwacht. Sogar die Angehörigen der Mauertoten mussten über die Todesumstände entweder schweigen oder erfuhren von vornherein nur Lügengeschichten.
    Professor Prokop berichtete, dass die meisten der Mauertoten entweder gar nicht oder »nur anfangs, später aber nicht mehr« in sein Institut gebracht worden seien. Er habe keine Schweige-Erklärungen gegenüber der Stasi abgegeben und die meisten der Leichen der an der Mauer erschossenen Menschen nicht untersucht.
    Die genaue Zahl der Todesopfer an der Mauer ist bekannt: 97 Personen wurden erschossen; insgesamt starben 136 Menschen. Darunter waren neben Flüchtlingen auch getötete Grenzsoldaten, Suizidenten und Verunglückte (es gab eine automatische Schießanlage).
    Eine »Mauerakte« – also Sektionsberichte von bei der Flucht an der Mauer erschossenen Menschen – bewahrte Prokop im riesigen Tresorschrank im Büro seines Institutes auf und zeigte sie mir. Er berichtete, dass zumindest die von ihm vorgenommenen Leichenschauen ordentlich und unbeeinflusst durchgeführt und protokolliert worden seien. Die Akten seien dann dem MfS übergeben worden. Die Sektionsberichte waren also sauber. Bloß die Einbettung in geheimdienstliche Verfahren war es nicht.
    Ein Beispiel für die verdrehte Auswertung von Tatorten an der Mauer ist eine spektakuläre Tunnelflucht im Jahr 1964. Unter einer brachliegenden Bäckerei in der Bernauer Straße in Westberlin grub ein Team von Fluchthelfern zwischen dem 10. April und dem 2. Oktober einen 140 Meter langen Tunnel. Er endete durch Zufall genau unter einem Toilettenhäuschen im Hof der Strelitzer Straße 55 in Ostberlin. 57 Menschen gelangten durch den Tunnel aus Ostberlin in den Westen.
    Als der Tunnel

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