Seziert: Das Leben von Otto Prokop (German Edition)
ging er täglich in seine Zelle im Institut, wie so eine Art Freigänger in der Haft. Dieser eminent kluge Mann verstand die Welt nicht mehr. Dass so ein Stress Alterungsprozesse fördert, wusste er, aber dass er nun auch noch den Beweis lieferte? Den Tod von Otto Prokop, den habe ich nicht verarbeiten können.
Aber hätte ich ihn auf die Dauer trösten können? Die Briefe wurden immer bitterer, verzweifelter. Die geistige Elite, so seine Meinung, wurde mit Füßen getreten und aus allen Universitätsämtern herausgeworfen, um dann durch Westdeutsche ersetzt zu werden. Aus Verbitterung verbohrte er sich in eine aus Enttäuschung entstandene Misanthropie. Für mich erschütternd, denn als Freund und Förderer war er ein wesentlicher Teil meines Lebens geworden.
Ich habe ihn als Mensch geliebt, und wenn es mir ganz schlecht gegangen wäre, ich hätte ihn gerufen. Da seine Eltern beide sehr alt geworden sind, war ich nie auf die Idee gekommen, er könne vor mir sterben. Als ich ihn zuletzt persönlich traf, wollte er mir Berlin oben vom Fernsehturm aus zeigen. Plötzlich, vor dem Eingang, sagte er: »Geht nicht, ich komm nicht mehr mit!« Als ich dann oben war, eine Art Mutprobe bei meiner Klaustrophobie, fiel mir auf einmal die doppelte Bedeutung seines Satzes ein: »Ich komm nicht mehr mit!«
Ich hätte weinen können und fuhr sofort herunter, aber der Platz, wo er warten wollte, war leer. Ich wusste sofort, dass es ein Abschied war. So wollte er in Erinnerung bleiben, lachend abwinkend: »Nein, ich komm nicht mehr mit!« Seine große Zeit war abgelaufen. Ich hatte mit ihm einmal Gedichte von Erich Fried [österreichischer Schriftsteller, 1921 bis 1988] diskutiert, unter anderem auch »Was bleibt«. Und was blieb ihm noch zu tun?
Hätte er diese Frage nicht mitgestalten können, indem er zum Beispiel seine Lebenserinnerungen überarbeitet und veröffentlicht hätte?
Natürlich, das wollte er ja auch, und ich dachte, er ist damit beschäftigt.
Ja, aber sein Sohn hat den Text Prokops Aussage nach weggeschlossen. Ich meine jetzt aber einen Text, der nicht so politisch ist, dass die Kinder es wegschließen, sondern einfach etwas, um mal zu zeigen, was man geleistet hat.
Da hätte sich vieles angeboten, allein schon die Entdeckung der Invertebraten- und später dann auch der Vertebraten-Lektine. Das waren wissenschaftliche Pionierleistungen, die Neuland eröffnet haben. Ich habe mich immer schon gewundert, dass in fast allen Nachrufen seine überragenden Verdienste als Blutgruppen- und Lektin-Forscher so gut wie gar nicht erwähnt werden. Offenbar war alles andere für die Öffentlichkeit viel spektakulärer.
Doch »Otto der Große« hat seine Biografie wirklich verdient, denn eklatant zeigt sich hier der »innere« und äußere Ost-West-Konflikt in fast allen menschlichen und unmenschlichen Dimensionen. Dass ein praktizierender Gerichtsmediziner hervorragende Grundlagenforschung betreibt und wissenschaftliche Theorien aufstellt, das passte eben nicht in das übliche Schema in diesem Fach. Prokop war eine Ausnahme-Erscheinung, er hätte sogar heutzutage ein Medienstar werden können.
Am meisten hat er darunter gelitten, wenn nicht gelitten wurde. Der Neid mancher Kollegen, die ihm einiges zu verdanken hatten, war bei Gelegenheit unverhohlen spürbar. Der Kölner Rechtsmediziner Dotzauer verdankte ihm einen tollen Vortrag anlässlich seines 60. Geburtstages, aber bei einem späteren Kongress in Köln nach der Wende war nichts mehr von freundschaftlicher Dankbarkeit zu spüren: Der Star von einst stand im Abseits.
Dabei war Prokop geradezu kindlich von seinem eigenen Genie »total begeistert«, wie man heute sagen würde. Das und seine offen gelebte Eitelkeit wurden ihm als Arroganz ausgelegt. Ein Irrtum.
Wenn jemand wirklich brillant ist, dann erkennen das andere oft nicht.
Es scheint so zu sein. Und wenn dann noch durch die Übersetzung des Blutgruppenbuchs internationaler Ruhm dazukommt, ist für manche das Maß voll, denn dass da einer aus der DDR einigen Kollegen hier etwas vormacht, auch als Gutachter – das war nicht einfach zu verkraften.
Hat Prokop in Berlin mit Ihnen auch vor dem Radio geredet?
Ja, das war so eine Art, Gespräche zu übertönen, grotesk. Deshalb waren die Besuche damals auch mit einem enormen Stress verbunden. In Ostberlin war ich nie ohne Angst gewesen, und die Rückkehr nach Westberlin war jedes Mal eine Riesen-Erleichterung.
Wie hat Prokop diesen Stress ausgehalten – indem er
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